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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

10.1.

Gestern zum Raclette eingeladen gewesen. Sogleich entspann sich eine muntere Diskussion zwischen den Gästen, ob denn mehr noch als geschwallte Kartoffeln und Gürkchen zum geschmolzenen Käse lege artis sei. Die Gastgeberin zum Beispiel meinte, gerade in der Schweiz würde dazu auch Salat gegessen, was ich bestreiten wollte (und hatte doch schon aus den Augenwinkeln die Schälchen, gefüllt mit Bananenscheiben und Ananas in Würfeln entdeckt).

Heute auf dem Weg nach Köln. Wir können uns das Lebensgefühl der Schweizer nicht vorstellen, die einfach so zu einem Bahnhof fahren, dort zur gebuchten Stunde in den Zug steigen, um wie versprochen anderswo wieder aus dem Zug zu steigen und dort ihren Geschäften nachgehen.

Hierzulande, und das merkt man den meisten auf den Bahnsteigen auch an, geht jedes Reisevorhaben mit der Bahn ins Ungewisse; bleibt Ausnahmezustand. Und wird zum Grund für Freude, falls es trotzdem «klappt».

Immerhinque: Kurz vor Hannover fängt es zu regnen an, gleich hinter Hannover hört es wieder auf.

In einer Woche stehe ich am Mittelmeer.

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9.1.

Neulich, es ist vielleicht schon ein paar Wochen her, hatte es im «Literarischen Leben» ein Gedicht von Michael Krüger, das hier noch immer auf dem Küchentisch liegt. Darin ist vom Herbst die Rede, der einem in den Knochen steckt. Das geht mir seither nicht mehr aus dem Sinn: Dass es einen Tag geben kann, eine Stunde, da man in seinen Knochen fühlen wird, dass jetzt der Herbst beginnt.

Gestern waren in der Süddeutschen, im Spiegel und in der F.A.S. die Texte zur deutschen Ausgabe des Romans von Michel Houellebeqc erschienen. Die Redakteure waren sich einig, dass dies ein Buch ist, das man gelesen haben muss (das sie gelesen haben mussten).>

Der Spiegel hatte zudem einen opulent aufgemachten Hausbesuch bei Michel Würthle, dem ich schon lange nicht mehr begegnet war. Anlass: Er hat den Herbst in den Knochen. Der Autor durfte sogar hinfassen. Sein Text war auf eine ärgerliche Weise schlecht, lieblos geschrieben. Als Herbstzeitloser frage ich mich da wozu.

Ohne noch.

Abends «Sturm auf das Kapitol». Der Dokumentarfilm ist größtenteils aus dem Material der Kapitolerstürmer zusammengesetzt und wirkt gerade deswegen so stark, weil echte Gewalt doch ganz anders ausschaut als die aus den angeblich so realistisch dargestellte in Spielfilmen. Und immer wieder hört man die Leute ausrufen, dass sie nicht glauben können, was sie gerade erleben. Das rufen Amerikaner ja anscheinend gerne und ständig aus, aber hier wirkte das ausnahmsweise einmal, tja: tief empfunden? I can`t believe it`s not butter! Und dass sie demnach wirklich dort angekommen waren, hier, in ihrem eigenen Film. Als ob ihnen die nächsten Einfälle für ihr Drehbuch auf den Zungen lägen, aber sie brächten sie gerade nicht heraus.

Answered prayers.

Ich glaube, es war Margaret Mead, die von einem Experiment im Norden Englands berichtet hat, in dem die Einwohner einer Ortschaft einfach mal wochenlang machen sollten, worauf sie Lust hatten. Jedenfalls krochen sie wenig später auf allen Vieren herum und gaben Laute von sich.

Komme her, Schneeflocke *

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7.1.

Der wesentliche Unterschied von Julien Gracq und Stifter scheint mir, dass Gracq die Landschaft nicht hernimmt, um halt irgendetwas zum Beschreiben zu haben. Bei ihm sind die Bäume nicht wehrlos, die Steine nicht länger tot. Er schreibt nicht, um zu bannen (oder seine Leser:innen zu chloroformieren). Und er erzählt die französischen Landschaften so, dass ich es kaum noch abwarten kann, bis wir in kaum mehr noch als einer Woche dort selbst eintreten dürfen.

Sind es drei oder vier Jahre, fünf? seitdem ich zum letzten Mal in St. Paul gewesen bin? Die Lektüre bringt intensive Erinnerungen herauf, die, vermutlich, allesamt ungenau sind; einige sogar falsch. Und in denen ich mich dennoch nur allzu gerne eingefügt sehe, mich auflösen will «wie ein Stein im Himmel».

So fand ich dann heute früh, als die Windschutzscheiben noch vom Reif bedeckt waren, auf dem Mauersims des großen Eckhauses gegenüber, an dessen Fassade seit ein paar Tagen ein Banner von Engels und Völkers hängt, eine handvoll Taschenbücher von Paul Éluard — Schicksal oder Chiffre?

An den 80. Geburtstag von Ernst Jünger erinnert sich Gracq übrigens auch. Er wurde im Schloss auf der Solitude begangen. Vor dem Essen wurde Bach auf dem Cello gespielt und aus den hohen Fenstern schaute man in den schwarzen Wald, der die kleine Lichtung dort umgibt.

Also auch dieses Heimweh wird dann bald gestillt werden.

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6.1.

Heute früh habe ich am Himmel wieder die Sterne gesehen. Nicht an Weihnachten, nicht in der Silvesternacht, immer war es dort trüb und verschleiert gewesen. Dann noch ein Sonnenaufgang mit zartgelben Säumen über den Dächern und seitdem dieses herrliche, klare, von Wolken reine Blau, für das es im Englischen das schöne Wort Cerulean gibt… Zum Anbeißen schaut das aus (und ich gestehe, ich bin dann auch hinaus und habe einen Bissen zu mir genommen).

Auf dem Küchentisch ein Buch von Julien Graqc: Er schreibt weder heftig, noch schwach und trotzdem habe ich gestern vor dem Einschlafen gleich 60 Seiten tief hineingelesen in sein Tagebuch vom Großen Weg.

Einsam ist es dort in den Landschaften, die er beschreibt; an die er erinnern will. Man ist dort schön alleine, mit ihm unterwegs. Und mir kam kein anderer entgegen.

Wie findest Du mich?

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5.1.

Launiges Wetter. Ein Aussen, das sich so gar nicht recht zum Innenleben fügen lassen will. Ein warmer Wind, Ill Wind wie in manchem Jahr um diese Zeit (sonst eher am Silvestermorgen) und ich habe das Gefühl, noch immer verkatert zu sein. Vielleicht bin ich es auch, wie dieser Pinguin, zu dem ein anderer sagt, dass er so ausschaut, als trüge er einen Smoking, woraufhin er dann wiederum entgegnet «Maybe I am?»

In diesem Sinne kamen wir am Sonntagnachmittag unter anderem auch auf das Thema Namensnennung in veröffentlichten Tagebüchern zu sprechen: Soll man es bei den Vornamen belassen? Geht man mit anderen so um wie mit Marken und führt sie en bloc mitsamt Nachnamen ein oder — um es literarisch hochwertiger zu gestalten: kürzt man auf Initialen; oder, und dafür hatte unser Gast H. dann ein besonders exquisites Beispiel parat: erwähnt man sogar sich selbst wie einen Fremden von oben herab betrachtet, wie eine Spielfigur ohne Namen, lediglich mit einem Großbuchstaben bezeichnet und denn dann freilich, um es besonders theoretisch wirken zu lassen, auch noch dem eigenen Nachnamen entlehnt?

Hier musste am Ende sogar Flutwein fließen. Wobei ich mir bis heute wie gesagt nicht sicher bin, ob die braven Winzer von der Ahr hier nicht hastig irgendwelche Kontingente irgendwelcher Weine aufgekauft haben zum Zwecke der Spendenaktion — Hatte man denn vor der Flut schon jemals von Ahr-Weinen gehört? Unsere Flaschen jedenfalls erschienen mir allzu malerisch mit Schlamm verschmiert…

Analog zu den Bio-Eiern, an denen immer genau eine Feder pro Karton an genau einem von sechs Eiern klebt.

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