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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

31.1.

Wenn man dann erst einmal diesen Punkt erreicht hat, wo einem alles egal sein kann, ist man natürlich allein. Belle & Sebastian zeigen auf ihrer Seite ein Video, das aus den Einsendungen ihrer Fans geschnitten ist, die alle das selbe Lied singen. Sie sehen genau so aus, wie ich mir die Fans von Belle & Sebastian vorgestellt habe. Wie lauter Münzen aus dem Barren einer Vorstellungswelt.

Man weiß mit der Zeit also ungefähr, für wen man schreibt. Ändern kann man das nicht. Das Literarische Leben hatte gestern einen Text, den ich ziemlich beeindruckend fand, von einem Schriftsteller, von dem ich noch nie etwas gehört hatte: Reinhard Kaiser-Mühlecker. Darin geht es darum, wie er Schriftsteller wurde. In der Hohlform also auch darum, wie er kein Bauer wurde (wie seine Eltern es waren oder sind). Mittlerweile ist es ja für beide Berufsgruppen eng geworden, er zitiert «Get big or get out» und schaut nach Norwegen, wo Schriftsteller mit einer Apanage rechnen können. Ähnliches gibt es vom belgischen König auch.

Die Seite war mit einer roten elektrischen Schreibmaschine illustriert, jener SchreIBMaschine, die manche tatsächlich noch vom Hören kennen (ihr Summen, wenn sie eingeschaltet war). Seitdem, seit dem Umstieg auf Textverabeitung im Computer hat die Ikonografie des Schriftstellertums kein Update mehr bekommen.

Old habits die hard.

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30.1.

Als ich vor ein paar Jahren über die Freuden des frühen Aufstehens schrieb (in Der Zeit natürlich), hatte ich einen wesentlichen Aspekt vergessen, glaube ich: Man hat dann mehr Zeit zur Verfügung. Nicht tatsächlich, aber dafür wirklich.

Die Zeit vor Sonnenaufgang ist offene Zeit. Der Filz der Nacht noch endlos ausgebreitet, man könnte überallhin rollen. Bis, da war die Kerze schon beinahe heruntergebrannt, zum Gesang des Rotkehlchens, der jetzt wieder durch die Scheibe dringt. Silbern.

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29.1.

Gestern war mir dann noch siedig heiß eingefallen, dass ich mit dabei war, eine Deadline zu reißen. Das war mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Im Ergebnis freilich äußerst unerfreulich, da ich mich, um das schier Unvermeidliche noch abzuwenden, ohne Aus- oder gar Umschweife ans Werk zu machen hatte. Und dabei stets an den Hotelier in Äthiopien zu denken, an seinen Wahlspruch über der Küchentür: NO EXCUSE, JUST RESULTS!

Am Ende ging es freilich gut, was gar nicht immer garantiert ist. Wir sind ja hier nicht in Köln.

Dennoch: Erogen ganz ohne Frage

ist die Stereoanlage

Den, der dran rummachen darf

macht sie fickerig und scharf.

(F.W. Bernstein)

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28.1.

Dann kamen die Klempner. Da wir hier schon seit Monaten wie im Sanatorium leben, brachten sie einen Zug der Virilität mit herein, vielmehr verkörperten sie selbst diesen Zug, den ich nicht anders als erfrischend finden konnte.

Ihr Handwerk ist ja per se mit Lärmentwicklung verbunden. Rohre quietschen nun einmal, wenn sie sich winden, auch das Wort Flansch will von sich, aus seiner starren Welt berichtend, singen. Wer länger schon als Klempner schafft, kann solche Geräusche, das Knarren im Gebälk seiner Arbeitswelt, die wie das Brüllen der Sonne sind, nicht mehr wahrnehmen. Vermutlich findet dann eine grundsätzliche Abstumpfung statt, die unempfindlich macht für blanke Stille. Wenn es immerzu klappert und röhrt wird diese Kulisse bald als gewöhnlich empfunden. Erst wenn, sagen wir, sich eine Wasserleitung aus der Wand sprengt, die Fliesen umherfliegen, entfährt dem Klempner selbst ein Laut (der Überraschung; angenehm überrascht vielleicht von den dynamischen Verhältnissen, die im Innern seines Arbeitsweltgehäuses herrschen; die er zu beherrschen hat).

Schon immer ist es eine Spielart von Neid, die ich verspüre, wenn ich den Handwerkern zuschauen darf. Natürlich bin ich in erster Linie neidisch auf ihr Vokabular. Sie brauchen es noch nicht einmal einzusetzen, ich denke mir diesen Teil ihrer Arbeit, während ich sie dabei beobachten darf.

«Die schaubare Natur wird zur Quelle meiner Imagination», steht auf einer Postkarte, die Friederike mir neulich aus Berlin geschickt hat. Das Zitat illustriert eine Fotografie aus dem Forsthaus zu Wilflingen, wo unter anderem eine im Ganzen präparierte Karettschildkröte, ein Exemplar von Varanus lirungensis, ein in seinem inflationierten Zustande getrockneter Igelfisch, sowie etliche Schneckenhäuser, Muschelschalen und Korallengerippe die Wände und Regaloberseiten dekorieren. An der Lichtseite zum Fenster, das selbst leider nicht abgebildet wurde, seilt eine Efeutute ihre Ranken ab aus halber Höhe, spiralförmig; die Pflanze wächst in einem Übertopf aus einem Korbflechtimitat — weißer Kunststoff, vermutlich (die Abbildung auf der Postkarte ist in Schwarzweiß fotografiert), eine ähnlich geformte Topfzierde gab es bei uns daheim auch, früher (zur selben Zeit womöglich!), darin beheimateten wir Usambaraveilchen…

Dieser handliche Ausschnitt der schaubaren Welt steht, in einer Halterung befestigt, auf meinem Schreibtisch. Ich kenne sie schon gut, beinahe auswendig? zumindest habe ich das Abgebildete verinnerlicht. Neulich war die dort gezeigte Zimmerecke schon Kulisse für meinen Traum. Und über den Rand der Karte hinweg konnte ich einen der Klempner beobachten, wie er sich im anderen Zimmer am Heizkörper zu schaffen machte. Zudem saß ich hier bei Kerzenlicht und wollte lesen.

Während ihrer Arbeit sprachen die Klempner ständig in ein Walkie-Talkie, aus dem die Antworten wie aus weiter Ferne hallten. Von dieser Stimme, deren Sprache konnte ich nicht verstehen, wurde der eine von ihnen bald abkommandiert — wie ich annahm, in den Keller. Vielleicht saß diese Stimme ebenfalls schon die ganze Zeit über im Keller unseres Hauses, vielleicht kam sie auch von weiter weg, aus Polen zum Beispiel. Ich fragte mich nicht, warum man bei der Hausverwaltung darauf gekommen war, ein Unternehmen aus einem anderen Land mit der Reparatur der Heizung zu beauftragen; in den Hundstagen kommen die Schlosser, die Kempowski die Fenster vergittern, selbstverständlich aus dem nahen Dorf. Der ‹Bastard Marwenne› im Abend mit Goldrand ist zumindest ansprechbar.

Ich fragte mich, wie es wohl auf sie, die Klempner, wirkte, dass sie in einem anderen Land auf Montage waren, wo man ihre Sprache nicht verstand, man sich deswegen auch nicht mit ihnen unterhalten konnte und man sie lediglich aus diesem Grund beauftragt hatte: weil ihre Arbeitskraft billiger war. Was sie, eventuell bloß für mich, nahe den Robotern rückte.

Dazu ihre Fernsteuerung über Walkie-Talkies! In einer Sprache, die ich nicht verstand. In der diese Stimme dem noch in der Wohnung verbliebenen Klempner womöglich gerade befahl, mir die Kerze auszupusten «…to snuff his candle.»

Dabei hatte ich eigentlich etwas anderes schreiben wollen.

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27.1.

Mittags kam der Vertrag mit der Post und damit ist es jetzt amtlich. Als wir später in den extrem feuchten Abend spazierten, schauten wir vom Tel-Aviv-Platz, der heute menschenleer war, durch die Allee hindurch wie in ein Tal: dahinten die Città incognita — schwebend zwischen Nebel und Dunst. Die oberen Etagen leuchteten schon aus den Wolken herab; wie winkend, wie schwebend, wie im Vorüberziehen.

Ein Abschied? Gewiss. Aber jetzt soll es erst noch in aller Seelen Ruhe Frühling werden. Der kommt hier viel eher. Wir halten Einzug in einen Endless Spring

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