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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

7.4.

Am Morgen noch ein Mal auf die schneebedeckte Wiese. Das Knirschen ist um diese Zeit im Jahr längst ausgestorben. Eigentlich — andererseits macht der April endlich auch mal wieder, was er will. Zumindest das, von dem wir behaupten, dass er es wollen soll.

Danach ins Auto, die Sitzheizung an und das Schiebedach auf. Neue Modelle haben herrlich weite Fenster ins Land. Die alte Lust, zur See zu fahren.

Frühling und sein graues Band: Als noch kein Schnee lag auf der Wiese, fand ich unter dem von einer Blütenwolke übersäten Türkenkirschenbusch mein Geschenk zu Ostern, ein Buch mit dem Titel Was blüht denn da?

Durchaus ein Myse an abyme, wenn ein Buch das jeden fragt und dabei nicht sich selbst meinen will, bloß weil es zufällig in der Landschaft herumliegt, wie dort heraus erblüht.

Scharfes Berufkraut (Erigeron acris) — Früher glaubte man, die Pflanze schütze. Erigeron leitet sich vom griechischen eri = früh und geron = Greis ab. Geschmack scharf. Unters Dach gehängt soll sie vor Blitzschlag schützen.

Den Messeturm, den Stalagmit der Commerzbank, den eloxierten Monolith von Price Waterhouse Cooper, das altehrwürdige Marriott: Dies würde einst die Altstadt von Frankfurt genannt. So, aus dieser Perspektive, aus diesem Winkel auf sie zu rasend, vor diesem Himmel auch, aus silbrigem Metall, von dem ein vereinzeltes Strahlenbündel Sonnenlicht wie suchend, wie zeigend aber auch herab zur Erde reichte «wo wir Menschen sind», sähen wir unsere Stadt vorerst zum letzten Mal.

Es ist ja nicht der Gesang der Sirene, der bezwingend wirkt, es ist der Seefahrer selbst, der schwach ist, schwach sein will, dürfen will und darf; nach so vielen Fahrten.

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6.4.

Schnee

Schade um die Magnolienblüten.

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5.4.

Sorglose Tage und Abende unter seidigem Himmel. Beim Suchen, aber in meinem Fall vor allem beim Verstecken der Osternester stellte sich die unbebaute Wiese, ein Nachbarsgarten ohne Nachbarn, abermals als Glücksfall heraus. Ich glaube, wenn dort ein Haus entstünde, würde es mir bald zu eng.

Wobei ich gestern im übernächsten Garten eine Beobachtung machen konnte: Dort waren zwecks Osterfeier die Großeltern zu Besuch und es wurde dann, der Großvater selbst hinter der Kamera, ein Film gedreht. Im Grunde war es bloß eine Szene für die Nachbarn auf Facebook. Der Vater sollte eine Kinderkarre mit seinem Kind in Richtung der Kamera schieben. Filmisch gesprochen eine Zufahrt. Der Großvater war aber zugleich auch Regisseur, vermutlich sogar ein Autorenfilmer, denn immer passte ihm irgendetwas — wie beim Film üblich, war es jedesmal etwas anderes — nicht, sodass der Sohn seine Zufahrt wiederholen musste. Und wiederholen und wiederholen und wiederholen.

Ging es früher, in der Ära der Familienfotografie, darum, den einen, idealen Moment einzufangen, der die Gelungenheit der Feier und die Harmonie der Familie samt ihrer Errungenschaften einzufangen, geht es jetzt um die ideale Szene, mit der sich ein erinnerungswürdiger Moment als Meilenstein der Familiengeschichte inszenieren ließe.

Entlang des voranrollenden Kinderwagens, einem Boomerang, der auch später im Clip andauernd zurück auf seine Ausgangsposition beordert werden wird, kann ich mir leicht eine Entwicklung vorstellen, in der die gesamte Feier als Abfolge zitierfähigen Materials begriffen werden wird (Schnittbilder inklusive).

Set und Setting: Leben im richtigen Film.

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3.4.

Heitere Fahrt in die alte Heimat bei zwar kühlem, dafür sonnigem Wetter. Wir hatten ein Upgrade erhalten, der Wagen war ein gedrungen muskulöser Japaner, der überdies (und seiner Karosse) in einem affigen Perlmutt lackiert worden war. Mächtige Stereoanlage — wie ich ja sowieso finde, dass man Musik nirgendwo so klangvoll zu Gehör bekommt, wie in einem dahinjagenden Automobil.

Um mich bei Laune zu halten, las mir Friederike aus den soeben Fischer oder Hanser erschienenen Tagebüchern von Carolin Emcke vor — dies freilich auch zur Vorbereitung auf unseren Besuch bei meinen Eltern, denn die lieben Carolin Emcke. Bei meinen Eltern hängt im Esszimmer sogar ein Porträt von ihr an der Wand. Christian Schad hat es gemalt und bei ihm heisst sie Sonja.

Friederike las mir die Stelle aus dem ersten Kapitel vor, als einst der Lockdown verkündet wurde und abends spielt Carolin Emcke mit ihrer Freundin Scrabble, und die legt dann das Wort «Axtmord». Und dann noch die Story aus dem zweiten, als Carolin Emcke in einer Videokonferenz mit ihrer palästinensischen Freundin sich von ihr beibringen lässt, wie sie ein bestimmtes palästinensisches Reisgericht zuzubereiten hat und natürlich hat auch diese Freundin aus Palästina bald schon den telekinetischen Axtmord an Emcke im Sinn, weil Emcke wider Erwartens nicht so gut kochen kann (ausserdem ist die Leitung miserabel, bzw. nicht so gut wie im Gaza Streifen et cetera).

Das erste Kapitel ist übrigens mit einem Zitat von Georg Büchner überschrieben, das zweite mit einem von Proust — Es ist also klar, wohin dieser Hase lang laufen wird bis zum Herbst. Aber früher genügte uns noch ein palästinensischer Schal, ein kariertes Pali-Tuch, wie es Arafat damals als Turban trug, um Flagge zu zeigen. Echte Palästinenser, geschweige denn deren Reisgerichte kannten wir nicht mal vom Hörensagen…

Aber genau in diesem Moment zeigten sich draußen die beinfarben getupften Blütenwölkchen am Hang. Und manche Bäumen waren vom senffarbenen Dunst früher Blätter umflort. Auf den Wiesen standen blütenvoll die Birnbäume. Und meine Mutter hatte Maultaschen gemacht.

Tagesaktuell getestet — das neue frisch geföhnt — flogen wir uns in die Arme.

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2.4.

Bei der Mietwagenfirma hier um die Ecke bin ich mittlerweile gern gesehen. Man winkte mir freundlich zu (wegen Carfreitag?)

Aber gut, so ist es nun mal in meinem Leben, ich habe mich auch schon beinahe zur Hälfte damit abgefunden: sobald ich irgendwo angekommen bin, sobald ich erste Würzelchen ausfahre — ganz zarte und bleiche — wird auch schon wieder ins Horn gestossen.

Soll ich am Ende nirgendwo, dafür überall zuhause gewesen sein?

Noch fürchterlicher als ein Mandrill selbst sehen die Zeichnungen und Gemälde aus, mit denen irgendein Mandrill abgebildet werden sollte.

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