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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

23.4.

Eine Frau kommt und holt die zehn Kartons ab, die wir annonciert hatten. Sie freut sich: «Da freue ich mich aber.» Es so viel Bedürfnis hier in der Stadt, beinahe hatte ich es schon vergessen. Es war abstrakt geworden. Wie eine Wolke. Jetzt steht sie wieder direkt über mir.

Auf einem kurzen Ausflug in die östliche Innenstadt begegnet mir schon so viel Leid, vor allem Armut, aber auch Freaktum, Selbstisolation aus Verzweiflung, aus dem über Jahre und Jahrzehnte ausgehärteten Gefühl des Ungeliebtbleibens, das es schon wieder ins Abstrakte sich verformt und damit erträglich für mich wird. Zum Aushalten. Wie man das sagt, an einem stechend heissen Tag, auf einem Platz im Schatten: Dass es hier zum Aushalten ist.

Und trotzdem bleibt das Wesentliche für mich, dass Berlin die Hauptstadt ist. Der Bundestag und die Gesetze, der Lifestyle der Abgeordneten, jeder Water-Cooler-Chat auf dem Flur findet hier statt vor der Kulisse eines unaussprechlichen Elends. Die Stadt ist ein endloser Windfang der Macht, in dem es säuselt und heult.

Vor einer Filiale der Berliner Sparkasse liegt ein altersloser Mensch in einem Sonnenfleck und gießt sich aus einer Taschenflasche eine klaren Flüssigkeit in den Mund. Vor ihm steht eine Freakfrau, in gelblich, grünen Tüchern und Nylonstrumpfhosen und ruft ihm zu «Nicht trinken! Nicht auch noch trinken!»

Und hier soll ich Geld abheben.

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19.4.

Abschied vom Tel-Aviv-Platz. Ich kam dort gerade rechtzeitig an, als eine kleine Blaskapelle aus zwei Schalmeien und einer Trommlerin samt roter Fahne Einzug hielt. Die Melodie war wehmütig und schön, sie erinnerte mich an etwas aber mir wollte nicht einfallen, an was.

Dann wurde es still, die Trommlerin schwenkte die rote Fahne, während der greise Schalmeienspieler ohne Megafon an die nackte Fassade hinauf rief «Arbeiterinnen und Arbeiter!» Es war ein Fähnlein der kommunistischen Partei Frankfurts, das zum 1. Mai mobilisieren wollte.

Noch während der Rede aber auch danach, als die Kapelle weiterspielte, gingen die Passanten ohne hinzusehen an den dreien vorüber. Auf den Balkonen war niemand erschienen. In der Ferne zeigten sich die Gebäude zur Hälfte vom Dunst verschleiert. Das Wetter war abweisend, blaugrau und kühl.

In der Wohnung riecht es nach einem alten Bettgenossen. Das ist der Duft der Kartons, die etwas Muffiges mit sich hereingebracht haben, obwohl sie ganz neu sind.

Der beste Einrichtungsstil ist genau genommen gar keiner. Leer gelassen sieht jede Wohnung am besten aus.

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18.4.

Ein Antiquar in England bietet mir ein gut erhaltenes Exemplar des ersten Telefonbuchs von Los Angeles an. Es besteht aus einer Seite, 90 Anschlüsse sind darauf verzeichnet. Der Antiquar will 9’500 Pfund dafür haben.

Ich hätte dieses Telefonbuch sehr sehr gern.

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17.4.

Die Auktion dauerte bis gestern Abend um halb sieben. Am Ende war «Normcore», der NTF einer quadratischen Infografik aus dem Jahr 2013, für 3,5 Ethereum (etwa 7’100 Euro) verkauft. Ersteigert von Sam Mason de Caires, einem Gründer der Plattform foundation, auf der die Auktion stattgefunden hatte.

Das ist ein Vorgang. Auch wenn ich noch immer nicht vollkommen durchdrungen habe, worum es eigentlich geht — aber habe ich das je bei Geld? «eigentlich» weiß ich doch noch immer nicht, wie ein Geldautomat funktioniert (obwohl ich schon manch‘ ein Mal zugegen war, wenn einer aufgefüllt werden musste)…

Es ist ja nicht die Idee von Normcore, die gestern verkauft wurde. Die Idee wurde damals von der Agentur K-Hole in einem PDF verbreitet. Kostenlos, per Email. Es liegen vermutlich hunderttausende Ausgaben dieses Dokumentes aus Servern und könnten beliebig oft abgerufen werden bis in alle Ewigkeit.

Warum verkaufen, was gratis noch in beliebiger Stückzahl verfügbar ist? Warum kaufen?

Und in diesem PDF findet sich dann auch jene begriffserklärende Infografik, die beinahe jeder beliebigen Folie irgendeiner Power-Point-Präsentation zum Verwechseln ähnlich sieht. Mit diesen Grafik lässt sich von der Dreifelderwirtschaft bis zur Hufeisentheorie nahezu jedes dynamische System versinnbildlichen. Vermutlich handelte es sich bei dem Normcore-Theorem sogar um eine begriffsbildende Grafik, da der dazugehörige Text vielleicht nicht von jedem Leser rezipiert worden war.

Warum kaufen?

Weil der Käufer an die Idee von Normcore glaubt. Mehr noch, er glaubt an die Idee dieser Agentur K-Hole, die es mittlerweile nicht mehr gibt, an den Erfolg dieser beiden Ideen, denn für ihn stehen sie für eine Alternative zum bis dahin Etablierten. Für etwas Neues. Weil diese Idee zu seiner Kultur gehört wie zu anderen Kulturen «Der Process» und er deshalb diese begriffsbildende Grafik besitzen will wie — ein Manuskript.

Eigentlich geht es bei dem Besitzwunsch von Sam Mason de Caires um ein sapiosexuelles Vergnügen, dem auch Siegfried Unseld fröhnte, wenn er sich seine Kassette mit dem Kafka in die Tiefgarage unter der Deutschen Bank bringen ließ, während er dort im Wagen wartete.

Seitdem sind gewisslich Jahre vergangen. Es gibt jetzt Menschen, die haben gelernt, der neuronalen Handschrift auf einer Datei nachzuspüren.

Neulich abends bei den Mosebachs, erzählte er mir von seinem Ausflug in den Bunker des Literaturarchivs in Marbach. Er hatte denen seinen sogenannten Vorlass verkauft (ein Wort aus der Sprache der Kelterer), wie auch schon Walser, wie auch Kracht. «Man steht dort auf endlosen Fluren», hat Mosebach mir erzählt, «und schaut an einer meterlangen Wand aus Schubladenschränken entlang. Dann sagt einem der Archivbeamte ‹Das ist jetzt der Vorlass von Reiner Kunze.›»

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15.4.

Der kleine Prinz ist mittlerweile so zutraulich geworden, dass ich neben seiner Schale sitzen und lesen kann. Er kommt trotzdem angeflogen, hüpft in drei flachen Bögen heran und nimmt sich eine Rosine, die er, wie mit Esstäbchen gefasst, weit vorne in der Schnabelspitze hält, bevor er, verbunden mit einem letzten Hinaufäugeln zu mir, in einem wahrlich federleichten Satz sich in die Tiefe fallen lässt.

Ich liebe an den Amseln ihre Eleganz. Es ist ja nicht nur der Prinz, der sich tadellos zu halten versteht.

Impeccable sein seidendunkles Federkleid. Tänzerisch sein Hüpfen — nie schwirrt er oder flattert gar. Es gibt ja Leute, die den Schöpfer frei nach Oma Kayan als «Großen Uhrmacher» begreifen. In dem Sinn hat er der Amseln Augenstern in goldene Ringlein gefasst.

Der Prinz hat zudem einen dunklen Fleck auf seinem transluzenten Schnabel. Wie ein Muttermal. Daran kann ich ihn erkennen. Beziehungsweise habe ich ihn anfänglich daran erkannt. Mittlerweile habe ich noch andere Unverwechselbarkeiten an ihm entdeckt: in seinen Zeiten, seinen Bewegungen, in der Art, wie er mich anschaut; in seinem Gesang.

Als ich vor fünf Jahren hinaus an den See gezogen bin, hat mich der Amselhahn, den ich im Thälmannpark kennengelernt hatte, verfolgt. Auf der Luftlinie. Er ist mir, der ich im Umzugswagen saß, hinterhergeflogen. Hat sich dort dann zur Ruhe gesetzt, bis er eines Nachts vom Stengel fiel und versank, in der weichen, feuchten Wiese am Ufer des schwarzen, kalten See‘.

Ob mir der Prinz auch bis nach Berlin folgen wird?

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