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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

14.4.

Erwacht, wie an den Strand geschwemmt, als Muschelhaus

Der Himmel über dem Mittelmeer

Von dieser kleinen Insel.

James Romm schreibt über die Niederlage der Heiligen Schar von Theben, die de facto ihrer Auslöschung entsprach. Das Erfolgsgeheimnis dieser Eliteeinheit waren nicht ihre Waffen,

Sie waren Liebende, lauter Paare. Vor dem anderen sich keine Blöße geben, erst recht nicht im Kampf,

einer des anderen Leib‘ Wächter.

Auf der beigefügten Ausgrabungsskizze des Massengrabes wurden an den Skeletten die tödlichen Verletzungen farbig hervorgehoben. Einige lagen noch Hand in Hand.

Als Historiker hat man ein kielhaft vertikal in die Tiefe lotendes Erleben. James Romm fährt gerne zum Angeln im Paddelboot aus. Die Autofahrt zum Meer nennt er meine Odysee. «My great passion is fishing, even though Homer’s heroes never do it. Fishing is a long journey, especially if you’re kayaking, and it’s you against the beasts of the wild.»

Was brauchst Du?

Nicht alles, aber vieles erscheint albern in diesem tiefen Licht.

Kohle.

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12.4.

Ich bedauere es mittlerweile sehr, dass ich mich an die allermeisten meiner kulinarischen Erfahrungen nicht mehr recht erinnern kann, oder gar noch gar nie konnte? Eventuell weil positive Erfahrungen dieser Art bei mir nicht spezifisch gespeichert wurden, bloß generell als gut; das reicht schon aus, um beim Anblick der nächsten Auster meinen Wunsch zu produzieren, sie schlürfen zu dürfen. Aber ich schwelge nie in Austernfantasien.

In Texten, noch mehr in Filmen gibt es manchmal diese Szenen, in denen sich jemand an seinen ersten Schluck Champagner erinnert — lebhaft, perlend: ich beneide dann die Figuren, halte solche Erinnerungen an konkrete Geschmackserlebnisse aber für konstruiert.

Gestern habe ich einem Mädchen von vier Jahren eine Kaugummispezialität namens Center Shock geschenkt. Dabei handelt es sich wohl um einen mundgerechten Behälter aus süßem Kaugummi, in dessen Inneren ein schockierend saures Gel verkapselt wurde. Die Geschmacksrichtung war laut Einwickelpapier «Hidden Apple». Das Mädchen kann noch nicht lesen, also war sie bei Ihrer Vorstellung, wie diese ihr unbekannte Süßigkeit wohl schmecken oder wirken könnte, allein auf die Beschreibungen der Autoritätspersonen in ihrem Umfeld angewiesen.

Auf einem Video, das die Mutter angefertigt hat, ist das Mädchen dabei zu sehen, wie sie zunächst voller Vorfreude den Center Shock in den Mund legt. Dann, nach erstem Kauen, macht sich die unerwartet sauer schmeckende Füllung des Hidden Apple breit und instinktiv reißt sie sich sofort den eben noch süße Informationen verteilenden Bissen heraus. Versucht es dann nach einigen Augenblicken nochmal — jetzt überwiegt bei ihr der Unglaube, dass ein Gastgeschenk auch etwas Unangenehmes sein könnte. Trotz allem, es schmeckt ihr weiterhin nicht. «Zu sauer, zu scharf».

Gleich darauf rationalisiert sie das irritierende Erlebnis mit dem Danaergeschenk als «gute Idee, die leider nicht gut schmeckt.»

Ich hoffe, dass sie eines Tages darüber schreiben wird.

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10.4.

Die Aufnahmen aus Weinheim sind größtenteils ordentlich herausgekommen. Heute früh bin ich die Beute durchgegangen: Japanisches Geißblatt (Lonicera japonica) und der Wohlriechende Fieberstrauch (Lindera benzoin) gefallen mir am besten. Bis auf weiteres. Manche der Pflanzen dort im Hermannshof des Geheimrat von Babo sind schon 200 Jahre alt. Man streift dort auf den schneckenförmig angelegten Pfaden umher wie durch eine Outdoor-Bibliothek. Dass alle maskiert waren, machte das Ganze zu einer mir kosmisch anmutenden Expedition — «Springtime again» heißt es bei Sun Ra. Spring wie in Feder, mechanisch mit Schlüssel. Ode an den Walzertakt der Natur.

Kurz vor Ladenschluss noch rasch zur Pediküre (im Hinterkopf freilich mein «kurz vor Landesschluss». Dort war ich der einzige Gast. Angenehmes Plaudern und Zwitschern der unbeschäftigten Arbeiterinnen über die leeren Sessel hinweg. Dann kam der einzige Arbeiter noch vorbei, setzte sich neben die Frau, die sich mit meinem rechten Fuß beschäftigte, als ob der ein vom Moos überzogener Kiesel war. Sie unterhielten sich in Vogelstimmen — vielleicht ja über meinen Fuß? Bei diesen Sprachen hilft mir nicht einmal mehr das Deuten. Was heiter klingt, könnte genauso gut einen Klagelaut bedeuten (so wie auch nicht jedes Lächeln des Säuglings seine Freude am Gekitzeltwerden ausdrücken will).

Auf Wolken nach Haus.

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9.4.

Neulich erst war mir aufgefallen, dass ich mir beim Spazierengehen deshalb einen Kaffee hole, weil ich ihn wohl als Eintrittsgeld verstehe für den öffentlichen Raum.

Nachdem mein Donnerstag unerwartetermaßen erfolgreich verlaufen war, wollte ich mir heute etwas Besonderes gönnen — eine Platte? ein Film? oder ein Buch?

Zu Weihnachten 2020 hatte ich eine Jahreskarte für die Museen der Stadt und im Umland von Frankfurt geschenkt bekommen, die ich — aus dem bekannten Grund — bislang noch nicht einmal annähernd amortisieren konnte. Aber leider hatte das Offenbacher Ledermuseum schon wieder einmal geschlossen und in der Schirn zeigen sie Malerei aus Kanada…

Beim Nachtessen betrachtete ich gedankenverloren ein historisches Bild von Gustav Klimt, wie er auf seinem Lieblingssteg am Attersee ruht, an seiner Wade ist ein Eierbecher aufgestellt und daneben liegt das Ei. Friederike, das erfuhr ich nebenbei, war auch schon mal am Ammersee. und ich sagte «Da würde ich auch mal gerne hin.» Und wenig später: «Das verrückte ist, ich könnte das ja tatsächlich; beinahe jederzeit!» Und Friederike sagte «Ja, und das solltest Du auch viel öfter machen.»

Ich bin heute natürlich nicht nach Österreich gefahren, aber immerhin bis nach Weinheim, um mir den Schaugarten im Hermannshof anzuschauen. Die Sonne schien, die alte Magnolie war überhäuft von teetassengroßen Blüten und es herrschte auch hier, im Garten, unter freiem Himmel, Maskenpflicht, aber ich habe trotzdem ein Gefühl von Freiheit verspürt.

Ich nehme an, das lag an meinem Entschluss allein. Zurück in Frankfurt grüßte mich ein alter Mann mit «Bon soir, Monsieur Docteur.»

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8.4.

Hinter uns eine Schleppe aus Schnee. Auf dem Balkon saß schon der kleine Prinz, der seit dem letzten Wintereinbruch gewachsen war. In Ermangelung von Rosinen füllten wir ihm eine Schale mit Berberitzen, die er beinahe ebenso gerne zu sich nahm. Am nächsten Mittag ging ich zu Tegut, um ihm seine gewohnte Winternahrung zu kaufen (selbst kann er das ja leider nicht).

Tegut werde ich vermissen. Die schönen Papiertüten dort auch, deren Aufdruck von John Baldessari (too late) sein könnte — der Städelschüler, der die Motive in der Wirklichkeit zu verantworten hatte, sei hiermit gerühmt.

Das Treiben auf der Taunusstraße draußen eher nicht. Oder vielleicht nach einer Weile dann doch. Also jein. Bei all seiner Geschäftigkeit, auch im Siechen. Gestern schaute ich dort unvermittelt in ein Schaufenster eines kleinen, beinahe altertümlich wirkenden Sexshops, dessen Schaufensterscheibe seit nun wohl schon einem Jahr nicht mehr gesäubert worden war. Hinter dem Schleier aus Taunusstraßensinter und -Sediment war einzig eine gigantisch große Tube eines klarsichtigen Gleitgels ausgestellt. Bar und nackt und bloß dargeboten auf einer Lage leuchtend blauen Pannesamts. Ein Material, das ich verabscheue. Aber halt auch der Kontext, beziehungsweise die Tube, der Shop und die Zeit.

Ich hatte natürlich längst wieder angefangen, Zeitung zu lesen. Allerdings wird es, wie bei jeder Droge, nie wieder so gut wie beim ersten Mal. Es ist vergleichbar mit einer Rasur ohne Klinge (ein Vergleich, der nur in der Welt der Vergleiche existiert, aber dort gibt es ihn wirklich). Immerhin fand ich dort im Schaum heute einen wunderbaren Text von Bernd Eilert, in dem er sich an Früher erinnert. Also an die Zeit vor dem vergangenen Jahr. Er schreibt von Florida, vom Tennisspielen, von schwärmeweise Pelikanen, «die, in Formationen fliegend, ihre Schatten über den Boden gleiten lassen» — wunderschön.

Die Menschen, die jetzt irgendwoanders landen wollen, um dann dort mit Maske am Strand zu sitzen, aufs Meer schauen, weil sie sich schlecht erinnern können, tun mir leid. Solange der Reiseteil noch erscheint, besteht Grund zur Hoffnung (für mich).

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