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17.4.

17.4.

Die Auktion dauerte bis gestern Abend um halb sieben. Am Ende war «Normcore», der NTF einer quadratischen Infografik aus dem Jahr 2013, für 3,5 Ethereum (etwa 7’100 Euro) verkauft. Ersteigert von Sam Mason de Caires, einem Gründer der Plattform foundation, auf der die Auktion stattgefunden hatte.

Das ist ein Vorgang. Auch wenn ich noch immer nicht vollkommen durchdrungen habe, worum es eigentlich geht — aber habe ich das je bei Geld? «eigentlich» weiß ich doch noch immer nicht, wie ein Geldautomat funktioniert (obwohl ich schon manch‘ ein Mal zugegen war, wenn einer aufgefüllt werden musste)…

Es ist ja nicht die Idee von Normcore, die gestern verkauft wurde. Die Idee wurde damals von der Agentur K-Hole in einem PDF verbreitet. Kostenlos, per Email. Es liegen vermutlich hunderttausende Ausgaben dieses Dokumentes aus Servern und könnten beliebig oft abgerufen werden bis in alle Ewigkeit.

Warum verkaufen, was gratis noch in beliebiger Stückzahl verfügbar ist? Warum kaufen?

Und in diesem PDF findet sich dann auch jene begriffserklärende Infografik, die beinahe jeder beliebigen Folie irgendeiner Power-Point-Präsentation zum Verwechseln ähnlich sieht. Mit diesen Grafik lässt sich von der Dreifelderwirtschaft bis zur Hufeisentheorie nahezu jedes dynamische System versinnbildlichen. Vermutlich handelte es sich bei dem Normcore-Theorem sogar um eine begriffsbildende Grafik, da der dazugehörige Text vielleicht nicht von jedem Leser rezipiert worden war.

Warum kaufen?

Weil der Käufer an die Idee von Normcore glaubt. Mehr noch, er glaubt an die Idee dieser Agentur K-Hole, die es mittlerweile nicht mehr gibt, an den Erfolg dieser beiden Ideen, denn für ihn stehen sie für eine Alternative zum bis dahin Etablierten. Für etwas Neues. Weil diese Idee zu seiner Kultur gehört wie zu anderen Kulturen «Der Process» und er deshalb diese begriffsbildende Grafik besitzen will wie — ein Manuskript.

Eigentlich geht es bei dem Besitzwunsch von Sam Mason de Caires um ein sapiosexuelles Vergnügen, dem auch Siegfried Unseld fröhnte, wenn er sich seine Kassette mit dem Kafka in die Tiefgarage unter der Deutschen Bank bringen ließ, während er dort im Wagen wartete.

Seitdem sind gewisslich Jahre vergangen. Es gibt jetzt Menschen, die haben gelernt, der neuronalen Handschrift auf einer Datei nachzuspüren.

Neulich abends bei den Mosebachs, erzählte er mir von seinem Ausflug in den Bunker des Literaturarchivs in Marbach. Er hatte denen seinen sogenannten Vorlass verkauft (ein Wort aus der Sprache der Kelterer), wie auch schon Walser, wie auch Kracht. «Man steht dort auf endlosen Fluren», hat Mosebach mir erzählt, «und schaut an einer meterlangen Wand aus Schubladenschränken entlang. Dann sagt einem der Archivbeamte ‹Das ist jetzt der Vorlass von Reiner Kunze.›»

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