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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

9.9.

Ein Grünspecht landet in der Linde gegenüber. Das flammende Keckern der Grünspechte hat mich auf meiner Reise begleitet.

Picus viridae of Europe. Of universal languages.

Geräusche des Grünspechts, sein «Ruf» auch deswegen so einprägsam für mich, weil ich darin die Arbeit der Larynx zu hören glaube; im Unterschied zu Geräuschen aus dem Kehlkopf.

Wie ja eigentlich jeglicher Vogelsang aus einem Lufteinziehen durch diese Membran besteht. Eine glitzernde Kette von Plosiven, wohingehen der Mensch eher summt.

Vorgestern ist Carl Albrecht Treuenfels verstorben. Angeblich soll er noch von seinem Bett auf der Intensivstation aus einen Text zum Verschwinden des Mäusebussards in Aussicht gestellt haben.

So long.

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8.9.

Abschied von den Eltern. Und nach einer Fahrt als wäre nichts gewesen, zurück in der Heimat. Wo die Sonne eine Stunde früher untergeht (zur Tagesschau).

Nachts noch in den Park, wo Friederike Pilze gefunden hat, die sich im Licht der Taschenlampe jedoch als zweifelhaft erweisen.

Essbar?

Riskieren will man es nicht.

Hier verläuft die Grenze zwischen dem Lockenden der Natur und ihrem Haken: Gerade Schönes könnte tödlich wirken.

Das Licht ist golden. Aus der rostbraunen Krone der Kastanie pieksen neongrün die Nadelköpfe. Ihr Nachbar, eine Esche oder Schwarzpappel (nun sehe ich es nicht mehr) hat es nicht geschafft: tot bis in die verholzenden Spitzen.

Eine gedämpfte Welt hat Mörike den September genannt.

Und noch immer hat er recht.

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5.9.

Meine letzte Cervelat aß ich im Stehen. Sie werde ich vermissen. Unter anderem. Der Zug nach Basel lief natürlich pünktlich ein.

Von dort dann, die Deutschen, als hätte der ICE eine Blase durchstoßen, ging es nur noch unter Mühen voran. Stunden später in Karlsruhe — immerhinque. Immerhin.

Am Morgen hatte ich auf der Rathausbrücke noch einen Angler beobachen wollen und in dem Augenblick biss bei ihm auch schon einer an. Er lud mich ein, dabei zu sein, wenn er seinen Fang ans Ufer holte. Es war eine Rotfeder, ein großer, münzenrunder Fisch mit olivgrünen Schuppen, die in der Morgensonne einen goldenen Rand hatten. Behutsam hatte er ihn flach auf die steinerne Brüstung gebettet und drehte ihm dabei schon den winzigen Haken aus dem O. Nahm ihn dann wie eine Brieftaube zwischen die Hände und fährte ihn durch die Luft im flachen Bogen zurück in die Limmat.

Dieser Fisch war ich.

Am Nachmittag dann gestern in Hohenheim, wo im Arboretum auch noch sehr alte Bäume stehen, unter denen schon Uhland gedichtet haben soll. Einer hatte kurios runde Blätter an kirschhaften Stängeln. Ich schaute auf seinem Schild nach: Eine Espe, aha.

Ich blieb in seinem Schutz stehen, nah bei dem alten Stamm und wartete ab, bis ihm ein Wind ins Laub gefahren kam.

Heute früh kamen endlich die Amseln aus dem Wald zurück.

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2.9.

Heute früh, um kurz vor sieben, als ich über die Brücke am Helmhaus ging, zeigten sich hinter der Seegrenze die Berge. Fein gestaffelt in Schichten von Zartlila bis Lavendelgrau. Ich sah den Schnee am Nordhang des Piz Palü.

Wie um mich zu verabschieden, waren einige Passantinnen und Passanten stehengeblieben. Wir schauten einander an. Für den Augenblich geeint durch das Schauspiel der Natur.

Was, wenn ich wiederkäme?

Bei allen Schattenseiten, die es hier gibt, natürlich, fühle ich mich in Zürich so wohl wie sonst nie.

Noch immer schrecke ich zusammen, wenn die Weiche eines Straßenbahngleises umschnappt; von dem Geräusch. Wie lange es dauert, bis man davor die Furcht verliert?

Ich nehme an, diese Furchtlosigkeit wird ausschließlich vererbt.

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1.9.

In der Schweiz zum Frisör ist keine gute Idee.

Nachts schrieb mir Friederike, dass Ernst Jünger wahrscheinlich solche wilden Mangos bekommen haben wird, damals, auf seiner Brasilienreise Anfang der siebziger Jahre, von der er in Siebzig Verweht

geschrieben hatte, irgendwo: ihm wäre eine «Mangopflaume» serviert worden.

Diese wilden Mangofrüchte, die ich gestern auf dem Helvetiaplatz gekauft und von denen ich F. ein Foto geschickt hatte (mit einem daneben gelegten Fünf-Franken-Stück zum Vergleich), waren tatsächlich bloß pflaumengroß. Ich konnte sie mitsamt Schale essen.

Davon schrieb Jünger übrigens nichts.

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