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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

8.5.

Gestern abends richtig guten Thunfisch bekommen, vermutlich der beste, den ich je munden durfte (den am Columbus Circle selig einbedacht, wo man mir ungefragt versichert hatte, er würde in Organ donor boxes eingeflogen). Heute dafür Raver Mikado (Goetz).

Wobei ich zudem etwas zwiegespalten bin: Soll ich den Spargelburger bei Mc Donalds testen oder am Fischstäbchenessen auf dem Hamburger Hafengeburtstag teilnehmen (online)?

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7.5.

Die neuerliche Faszination für sich selbst überlassene Räume kommt nicht von ungefähr. Im Laufe des vergangenen Jahres hat vermutlich jeder irgendwann sich wiedergefunden an einem dieser für gewöhnlich viel zu weit, viel zu leer auch, insgesamt also überdimensioniert für den alleinsamen Besucher und somit viel zu spannungslos, ja geradezu müd empfundenen Orte: Verlassene Einkaufszentren. Terminalgebäude. Turn- und Messehallen. Sämtliche Hallen, in denen es hallte (wie sonst bloß in Kirchen). Oder, wie ich gestern: den Parkplatz eines Garten-Bau-Marktes am Rande der Stadt.

Ich verbrachte mehr Zeit als sonst in diesem Liminal Space par excellence. Sowieso Parkplätze: für mich sind es Schleusen, da ich kein Auto mein eigen nennen kann. Aber der Zutritt zu den Hallen des Garten-Bau-Marktes wird derzeit nur gewährt gegen Vorweis eines aktuellen Testzertifikates. Der Test selbst ist unentgeltlich, er wird in einem Zelt durchgeführt, das vor der stolzen Kulisse der Markthallen winzig wirkt. Und zerbrechlich. Als Provisorium, das es ja ist.

Die Wartezeit auf das Testergebnis, mit dem zusammen mir auch das benötigte Zertifikat ausgehändigt wurde, betrug 20 Minuten. Das ist reichlich Zeit, wenn sie in einem Liminal Space verbracht werden soll. Gleich neben dem Zelt waren vor langer Zeit, Jahre waren es mindestens, die aus Kunststoff, vielleicht auch Fiberglas tiefgezogene Form eines Swimming Pools für sechs Personen aufgestellt. Senkrecht ragte sie in den Himmel. Dahinter die Markthallen. Die Konstellation erinnerte mich an einen Ort am Fuße der provenzalischen Alpen, an Sophia Antopolis. Die Uferautobahn biegt dort, von Nizza kommend, ab ins Hinterland und am Ausläufer eines dieser kleinen Straßendörfer dort, die in ihren Gewerbegebieten immer etwas wahllos, auch müllig zusammengewürfelt erscheinen, gibt es einen Großhandel für Pool-Bedarf, der präsentiert ein ähnliches Modell, in der selben Position; also stehend — allerdings auf einer gut sechs Meter hohen Stange montiert. Als Pool am Stiel.

Aus einer offenbar schon seit langem leerstehenden Halle (in Brandenburg wieder) drang Musik durch die winzige Kiemenklappe des Wals «Out on the road today

I saw a Deadhead sticker on a cadillac…»

Ein älterer Mann, der aus dieser Tür ins dunkle Innere der Halle gekommen war, hob nacheinander weiße Steinbrocken aus seiner Scheibtruhe und warf den Bauschutt einzeln in seinen Container. Mich störte der Rhythmus. Es gab nämlich keinen.

Später allein am Fluß entlang, bis es ein Flüsschen geworden war. Es gibt hier viele Nachtigallen, die um diese Zeit im Jahr noch alleine sind. Und singen. Wo ich am Delta einen metallisch blau lackierten Käfer fand, mit dem ich gerne eine Reise unternommen hätte. Womöglich ins Blaue? Wohin denn auch sonst.

Das Schreiben herrlich ist, weil man alles zugleich sein kann, oder «köstlich», wie Flaubert festgestellt hat, stimmt wohl. Mal ist man Parkplatz, dann wieder Wald.

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5.5.

Schon der zweite Tag, an dem vor Sturmböen gewarnt wird. Beim Vorübergehen entbieten die Gerüste Gesang wie stählerne Harfenseiten. Auch zwischen den Sturmböen geschieht Wundersames, zum Beispiel ein doppelter Regenbogen, direkt hinter unserem Haus.

Scheinbar dort aus einem ansonsten unauffälligen Strauch entsprungen, der zweite Bogen eher sein Schatten, als Doppelgänger; dennoch bunt gefärbt und von daher ihm zugehörig. Das Phänomen nennt sich Alexanders dunkles Band, in der englischsprachigen Wikipedia wird vor der Verwechslungsgefahr mit Alexander’s Ragtime Band gewarnt. Beides wusste ich gestern noch nicht, im Angesichts des doppelten Regenbogen vor der nächsten Bö.

Auf dem Weg zum Rathaus Kreuzberg öffnete sich in einer Hecke eine Tür, wie eine Tapetentür im Film, und daraus trat ein Junge auf die Straße, sichtlich in ein Telefonat vertieft. Unwillkürlich beschäftigte ich mich mit der Frage, warum er mich nicht grüßt. Dies aber nur so lange, bis ich vor mir selbst aussprach, dass er «am Telefon» war. Und mir wenig später einfiel, dass mich Kinder doch sonst auch nicht grüßen. Selbst wenn sie nicht aus einer Heckentür ins Freie treten.

Auf dem Sender Warte TV, der die Clips für die Bildschirme in den Wartebereichen der Bürgerämter produziert, wurde gemeldet, dass Tinder mit einem Sommer der Liebe rechnet.

Die Beamtin, die meinen Antrag auf Eintrag ins Melderegister durchgeführt hat, bewahrt ihre Stempel in einer Dose aus maigrünem Kunststoff auf.

Mein Reisepass, ein Palimpsest.

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4.5.

Auf Ohrhöhe rechts neben dem Platz, an dem ich schreibe, nisten Spatzen in der Wand. Ihre Einflugschneise zu den Löchern in der Fassade führt quer an meinem Fenster vorüber. Die Flieger scheinen erst auf den letzten Zentimetern abzubremsen, wenn überhaupt. Ich sehe sie einem Punkt entgegen pfeilen, der rechts neben meinem Sichtfeld, im toten Winkel liegt.

Aus den in die Wand gepolsterten Nestern höre ich es knistern und rascheln. Bald wohl auch fiepen.

Die Luftbrücke steht. Was machen sie nachts?

Fürwahr an solch einem Platz, da lässt sich herrlich träumen. Müsste ich mir deswegen ein schlechtes Gewissen machen? Ich glaube nicht (W.K. wie mein Vater zu sagen pflegt: «Wohl kaum».) Ist es doch mein Beruf, für andere zu träumen.

«Sieh‘ dort, Vater, der Vorträumer kütt» — «Ach lass’mîn Jong, der geht vorüber. Wie alles im sogenannten Leben.»

Aber sind meine Träume denn auch groß genug? Von ihrer Zahl her, von ihrer Gestalt?

Im Gegenteil, meine Träume sind klein, sind zart von Wuchs. Sie passten noch durch jedes Schlüsselloch bis in das Innenleben der Häuser, an denen ich vorüberging.

Übrigens: Noch niemals habe ich vom Leben in einem Haus aus meiner Zeit geträumt. Immer in alten Gemäuern. In denen die Vögel sich Nester bauen. In denen es spukt.

Ich bin wie es.

Träume brauchen keinen ersten Satz.

Selbst in meiner Erinnerung fing kein Traum jemals an.

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3.5.

Angeblich ist nachgewiesen, dass ein Fünftel der Jugendlichen in Groß Britannien glaubt, dass es sich bei Fischstäbchen, die dort Fish Finger heißen, um die panierten Finger von Fischen handelt.

Aus dieser Meldung strömte mir zugleich neue Hoffnung entgegen, dass die suggestive Kraft der Sprache sich noch nicht erschöpft hat.

Doch jederzeit, in jedem Augenblick wird es soweit sein.

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