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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

17.5.

Den Sonntag mit einer wider Erwarten angenehmen Tätigkeit verbracht: ein Register anzufertigen für dies Tagebüchle. Ich kann mich noch lebhaft an die Arbeit am Register für TR erinnern (und schon damals hat sie mir irgendwie Freude bereitet, aber gestern halt immense).

Gar nicht erstaunlich übrigens, dass dafür inzwischen noch keine Software erfunden wurde — immerhin sind mehr als zwanzig Jahre verstrichen. Wenn der Autor selbst die Stichworte auswählt entsteht ein Metatext von einem noch einmal ganz anderen Reiz. Wählen kann vermutlich auch eine künstliche Seele, aber dann wird der Reiz des Textes auch ein wiederum ganz anderer sein.

Hinsichtlich Fleißarbeiten von nicht-menschlichen Intelligenzen geleistet gab es dann über diesen rundum geglückten Tag noch etwas am Bienenhäusle zu beobachten. Die dort eingezogene Wildbiene, ein Single, hat gestern das bullaugenförmige Einflugsloch zu ihrer Kajüte mit einem Propf aus einer lehmartigen Substanz verschlossen; eine, die sie selbst hergestellt hatte. Das ging rasend schnell vor sich. Ich war in der Zeit gerade mal siebzehn Einträge vorangekommen. Und als ich das nächste Mal schaute…

Und was sagt, apropos Meta, die Software zu diesem Eintrag?

«Lesbarkeit: Gut»

Ein ausgesprochen schwäbisches Lob.

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15.5.

An jedem Tag ein kleines Wunder

Seit dem Tag, an dem wir eingezogen

Sind manche sehr klein

Dafür zierlich

Heute nachmittag sollte es Gewitter geben

Doch es verschiebt sich

Morgen ist auch noch ein Tag.

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13.5.

Kaum hatte ich mich darüber aufgeregt, dass es in dieser Stadt mittlerweile einfacher geworden ist, einen Impftermin zu bekommen, denn einen für die Blutspende, schnitt ich mir auch schon derart tief ins eigene Fleisch (an der Wurzel des Zeigefingers), geradezu saftig, dass ich für einige Minuten lang glaubte, diese Blutung höret nun nimmermehr auf.

Ein geringeres Problem dabei war, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt an der sogenannten frischen Luft befand, das heißt: potentiell stand ich unter Beobachtung; es könnte bloß eine Frage von Augenblicken anderer Augen sein, bis mich jemand entdecken würde – blutüberströmt. Beziehungsweise offensichtlich nichzt in der Lage, sein Blut zu halten.

Die Spatzen schrie, die Sonne schien, die Leute spielten Basketball. Es war wie bei Terry Jacks und ich hatte das Gefühl, dass sich die Menschen, die sich selbst die Pulsadern aufschneiden, ganz genau so fühlen müssen (genau weiß man es ja nicht). Wenn das Blut erst strömt, dann denkt man «Scheiße. Das hört ja überhaupt nicht auf!»

Gewiss, auch Blut ist eine nachwachsende Resource. Das macht den Reiz des Blutspendens für mich aus (der Körper macht einfach mehr davon). Aber zugleich weiß man selbst sehr gut auch um die Endlichkeit, beziehungsweise, wie lange der Körper dafür braucht, den Tank wieder aufzufüllen.

Ich hatte Fliederzweige schneiden wollen.

Leise, inwändig befahl ich meinen Zellen die Geschwindigkeit des Verklumpungsprozesses an der Schnittstelle zu beschleunigen. Wie ein Jogi «I now send my energy into my fingertips».

Entweder das, oder die Zeit heilte dann meine Wunde.

Die fatalen Unfälle passieren angeblich nicht an der Front, sondern im Haushalt.

Und eigentlich zähle ich schon die Tage, bis es mich endlich die Treppe hinunterhaut.

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11.5.

Schneidend: Ein jedes schwingt sein klares Schwertchen in der ersten Morgensonne — Leben in einer Spatzenwelt, die uns wie eine Wolke aus Spatzenmusik, als eine Cloud of Sound umgibt. Die Mauer ist weg, dafür eine Wolke. Wenn Phil Spector das noch erleben dürfte…

Mit den ersten Strahlen — heute früh war dort ein orangefarbenes Band am Horizont: Rothko ließ grüßen — hebt die Wolke an, steigt auf und schwillt wie ein Ballon, bis zu dem Platz, an dem ich schlafe; von Sträuchern, in denen sie geschlafen haben bis zu den Dächern, wo sie leben, ihr Spatzentreiben veranstalten. Geräuschvoll. Eine >Wolke, die das gesamte Haus umgibt wie einer jener neuartigen Helme für Fahrradfahrer, den ich neulich zum ersten mal am lebenden Subjekt betrachten durfte. Der Helm aus einem synthetischen Material befindet sich in einem Kragenwulst, den sich der Fahrer wie eine enge Stola um den Hals knöpft. Falls etwas schiefgeht während der Fahrt, löst einer von vielen Sensoren die Helmgenese aus. Dannm bläst sich in weniger als einem Augenblick die rettende Kapuze auf wie ein Airbag, der den Kopf des Stürzenden polsternd umschließt.

Apropos Wunder: Gestern mittag war es mir zum ersten Mal vergönnt, das mir trotz Maske meine Brille nicht beschlug beim Einstieg in die Straßenbahn. Möglich gemacht (brought to me) wurde dieses neue Erlebnis durch ein Gleichgewicht im Wärmeverhältnis von der Abluft in meiner Maske und der Umgebungsluft um mich herum. Beides gleichzeitig — Sehhilfe und Atemschutz: So nahm ich die Außenwelt, die vor den Straßenbahnfenstern an mir vorüberzog, in ungewohnter Schärfe war. Ich kann noch immer nicht sagen, welche von beiden Filmen mir besser gefiel.

Allüberall dort in den Gassen und, natürlich, erst recht auf den Wiesen, Szenerien nach Art des Frühstücks im Freien. Als ob es kein Gestern mehr gäbe. Cadmiumfarben leuchtet Apérol Spritz.

Und: In eine der Bohrungen des kleinen Betonblocks, den ich zu Ostern gefunden habe, ist gestern sogleich eine Biene eingezogen. Von Gemütlichkeit kann meiner Meinung nach zwar keine Rede sein (die Lücke, die der Bohrer gelassen hat, füllt die Biene vollkommen aus), aber wer weiß schon, wie Insekten atmen? beziehungsweise, ob eine Empfindung der Gemütlichkeit für sie überhaupt eine Rolle spielt im Gewebe ihres Daseins; ihrer Existenz zum Ende?

Von Üexküll scheint das nicht bedacht zu haben, Heidegger war es offenbar wurscht —

Ich stehe

Wie schon oft

Im Irgendwo

Zwitschernd dazwischen.

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10.5.

Geglückte Tage inklusive eines ansehnlichen Fortschritts im Osterhammel: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts grassierten in mehreren Ländern schwere Krankheiten, die man damals noch nicht als Pandemien bezeichnet hat, sondern als «Mikrobenschock». Ein herrliches Wort! Osterhammel verwendet es fortlaufend für seine Einteilung der Weltgeschichtszeit vor und nach dem Mikrobenschock.

Am Samstag erzählte mir eine Frau von einem Erlebnis, da hatte sie es sich mit Kaffee auf ihrer Dachterrasse gemütlich gemacht und plötzlich landete ein Wellensittich neben ihr. Der Vogel war wohl völlig erschöpft von seiner Reise und blieb dort einfach sitzen, um sich von ihr wieder aufpäppeln zu lassen. Was sie dann wohl, wenn auch wiederwillig, getan hat. Aber der Vogel flog nicht mehr davon. Anscheinend wollte er bleiben. Und sie fragte sich, ob es ihr leichter gefallen wäre, ihn zu verscheuchen, wenn es sich nicht um einen Exoten gehandelt hätte.

Er hat wohl türkisfarbendes Gefieder. Leuchtend wie ein Swimming Pool.

Bei mir hingegen landete gestern ein Käfer, von ovaler Form, ein winziges Seifenstück. Bald lag er auf seinem gewölbten Rücken, den Flügeldecken und flimmerte wie Samsa. Ich drehte ihn um. Er wandte sich abermals zum Sterben.

Kein Schock, liebe Mikrobe. Mein Käfer ist dumm.

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