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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

18.8.

Erste Trauben treffen ein aus dem fernen Tessin. Magentafarben, wie betaut. Am Abend mit Beda und dem Wandering Star in einer Bar für Naturweine. Es bedient eine massive Schwedin mit schwarzem Haar. Sardinen und Lardo mit frittierter Fenchelsaat.

Gespräch über die Wichtigkeit, sich für jede Aufgabe selbst in die passende Stimmung bringen zu können. Alles hat Einfluss, verstimmt wird alles nichts. Und ich sah endlich wieder diese beiden jungen Männer vor mir, als ich mit Friederike samstagabends am See entlang gegangen war: Die Gitarre hatte meine Aufmerksamkeit gefordert, sie sah wie eine Geige aus. Ein polierter Resonanzkörper. Hochnervös. Die Fingerkuppen brauchten ihre Saiten kaum zu berühren, da fingen die Töne schon an zu singen. Kugelrund wie Perlen, in der Tat. Aber solch eine Stimme hätte ich dem anderen nicht zugetraut. Er war ja selbst sein Instrument. Ganz unscheinbar. Und hebt er an, mit dem Rücken zu uns: Softly as in a morning sunrise…

Solcher Wunder bedarf es leider vieler. Ein paar Tage lang muss man sie noch für sich behalten. Dann hat man einen ganzen Strauß in sich und darf jetzt pflücken gehen.

Der Kunsthändler Iwan Wirth eröffnet seine neueste Galerie in einem ehemaligen Bankgebäude auf der Bahnhofstraße Nummer 1.

Ist doch konsequent.

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17.8.

Tatsächlich war die einzige Neuerung im Studio, dass es den Kaffee nicht mehr aus den weißen Plastikbechern gab. Sie waren schön gewesen, doch letztendlich immer mühseliger aufzutreiben. Jetzt sind sie abgeschafft. Durch weniger schöne Kameraden aus kaffeefarbener Pappe ersetzt.

In der Stadt wiederum wird ein Farbton namens Nachtsalbei diskutiert. Eingeführt vom Möbelhändler Hugo Peters, der eine Sonderserie von USM Haller anbietet, deren Blechteile in diesem exklusiv für ihn angemischten Farbton lackiert sind. Nachtsalbei wird sogar in der Straßenbahn beworben. Andere Tramzüge sind fahrende Werbeschilder für den Swiss-Coin, die Schweizer Kryptowährung Bitcoin Suisse, deren Logo freilich stark an die des Bitcoins angelehnt ist (allerdings zeigen die ineinander verschlungenen Konturen des bekannten Bs in ihrer Schnittzone das Schweizer Kreuz). Der Slogan lautet «Bitcoin Suisse ist felsenfest». Und es gibt ein Schweizer Paypal, es heißt Twint. Man kann überall damit bezahlen, Twint ist überall willkommen, allerdings braucht man dafür zwingend ein Konto bei einer Schweizer Bank. Der Lieferdienst Gorillas heißt hier Stash.

Am Helvetiaplatz gibt es jetzt am Fischbrunnen eine neue Bar in dem brutalistischen Quader, an dem bei meinem vorigen Besuch noch gebaut wurde. Sie hat, glaube ich, keinen Namen und ist ganz mit Holz ausgeschalt. Wie eine hölzerne Höhlung in einer Druse aus Beton.

Ein Mann, bekleidet mit Designerunterwäsche, trägt ein langes, rot schimmerndes Rohr durch die Bäckerstraße. Das Rohr erscheint mir makellos.

Ich glaube, dass in etwa so, vielleicht sogar noch etwas mehr als bei der Einführung des Smartphones sich der sogenannte öffentliche Raum durch die drahtlosen Ohrhörer verändert hat, die hier jedem zweiten als papierweiße Stummel permanent aus den Muscheln ragen. Wie um darauf zu zeigen, dass hier jeder zweite um mich herum in Wahrheit ganz woanders ist.

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13.8.

Ankunft in Zürich. Des Bahnerstreiks wegen auf sogenannten Umwegen (wobei mir es ja mittlerweile so vorkommt, als ob die Bahn selbst dieser Umweg ist und alles übrige Wege), aber mit den vorbeijagenden Ortsnamen «Mumpf» beziehungsweise «Frick» durfte mein Groll, auch die Unrast sich legen: Bienvenue in der Schweiz.

Die Tür zu einer Zugtoilette stand offen und auf der Kloschüssel hockte ein Schweizer. Er löffelte Vanilleeis aus einer winzigen Packung (von Mövenpick).

Das neue Heim lässt den See durch die Fenster funkeln. Das Wasser ist angenehm, vor der bronzenen Pyramide des Schönheitschirurgen tanzten Frauen zu brasilianischem Funk.

«Tja, aber dieses Gebäude wird hier natürlich als Fauxpas betrachtet», sagte Beda. Es klang kein wenig bitter.

30° Celsius, der Wind weht. Von seiner Temperatur her macht es keinen Unterschied. Er ist bloße Bewegung.

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10.8.

Meine sommerliche Welt hat ihre Geräusche: Das Brausen im Lavendelbusch

Von den Bienen

Das Knistern der bleichen Ähren (wie Smacks in einer Schüssel)

Flugzeuge ziehen anders dumpf rauschend

Irgendwie hell, gläsern, silbrig gurgelnd

Unter den allsehenden, stummen Wolken vorüber

Der Kater ist alt, zu alt für Miau. Er hüstelt seinen Klagelaut

Eine Geste des Bittens

Unermüdlich wie die Zeit

Sprudelt das Wasser aus dem Findling

Während ich in einer Fachzeitschrift vom erneut verschobenen Erscheinungstermin des Albums Donda

lese

Landet ein Gartenrotschwänzchen vor mir auf dem Tisch

Heiteres Gezwitscherraten

Legt seinen Kopf schräg

Um mich anzuschau’n?

Mit seinem Brombeerperlenauge

Eine Mahnung

Dass Du mich auch bloß nicht vergisst.

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8.8.

Ankunft in der alten Heimat. Seit dem Umzug nach Berlin dauert die Anreise wieder beinahe ewig. Über die Bahnfahrt könnte ich freilich auch wieder Worte verlieren, aber wer will das schon? Einzig die mitreisenden Mädchen eines Pfadfinderfähnleins sollen davon im Gedächtnis bleiben. Ihre leiernden Vorlesestimmen; die blauen Blusen.

Die Geburtstage nachfeiern und am Vormittag gleich auf in die Weinberge. Tag der Katze übrigens.

Das Grüne in der Natur war durch den wochenlangen Regen aufgequollen zur maximalen Pracht. An den golfrasenhaften Streifen zwischen den Rebreihen kann man deutlich erkennen, welcher Winzer noch mit Unkrautvernichtern arbeitet. Bei den anderen blüht (und summt) es dort längst. Und über diesen Reihen rüttelt der Falke (Mäuse spielen kein Golf).

Frühe Zwetschgen, zwetschgenspitz und fest, sehr viele Äpfel, ein Feigenbaum voller Früchte.

Weniger Nüsse. Aber es wird, wenn jetzt nicht noch Hagel kommt, ein gutes Jahr.

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