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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

24.8.

Der Verleger schickt eine Mail, in der er frohlockt, dass Dietmar Darth mit seinem nächsten Roman schon jetzt, vor Erscheinen, für den Buchpreis nominiert worden ist.

Preise sind mir egal. Ich habe noch nie einen bekommen.

Kurioserweise. Aber was mich beinahe schwindelig macht ist: Der neue Dath hat über 600 Seiten. Seine im vergangenen Jahr erschienene Geschichte des Science-Fiction-Films hatte über 1200. Mache ich etwas falsch?

Dath ist festangestellt als Redakteur im Feuilleton. Ich nehme seine Belastung ähnlich der meinen hier an. Ich kriege nach Dienstschluss so gut wie kaum noch etwas hin.

Allein kann ich Bücher fressen ohne Ende. Es ist die ständige Beanspruchung, das Ansprechbarsein in einem redaktionellen Zusammenhang, das mich erschöpft.

Meine Mutter sagt, dass ich als Schulkind immer noch stundenlang Mittagsschlaf machen musste — so sehr hat mich das Zusammensein mit anderen damals schon erschöpfen können.

Es gibt mir einerseits den Wunsch, mich zurückzuziehen und dazu ein Bedürfnis zu kommunizieren.

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23.8.

So absurd, hier jeden Abend die Hitler-Filme zu schauen, für die das ZDF stets Gründe finden kann, sie auszustrahlen zu müssen.

In der Strassenbahn las ich erst kürzlich, dass soundsoviel Prozent der Schweizerinnen und Schweizer noch glauben, dass es Hitler selbst war, der die Berliner Mauer errichten ließ.

Womöglich lässt es das Wetter zu, dass ich morgen endlich wieder an den See darf.

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22.8.

Um zwei Uhr wurde ich geweckt von hämmerndem Regen. Kein Hagel, der Krach wurde allein vom Wasser gemacht, das mit solcher Wucht aus dem Himmel auf die Dächer und Plätze fiel. Wirklich krachte.

Noch halb im Traum beeilte ich mich, die Fenster zu schließen. Dabei stellte ich fest, das ich sie gar nicht geöffnet hatte — jetzt erst wurde es richtig laut.

Der Regen war eine Wand, ein Wasserfall. Ich konnte Leute hören, die nebenan, wo das Nachtsalbei verkauft wird, sich untergestellt hatten und schrien.

Später kam einer mit einer singenden Säge vorbei. Sonntags hat hier alles zu.

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20.8.

In der Shisha Bar downstairs wird die Geschmacksrichtung «Alpenbeeren» offeriert.

Mehr als eine Woche habe ich dieses Mal gebraucht, um mich zu akklimatisieren.

Aus dem Inneren der Taxis auf dem Wartestreifen, aus dem schattigen Inneren der Kneipe Papi’s Schweizerdegen heraus sirmelt ein Soundtrack, der Langstraßenblues: Smalltown Boy und Carless Whisper und so fort.

Sirmelt bis hinauf zur Gaststätte Sonne, der Thai Bar mit einem Twist (dort läuft OMD—Orchestral Manouvers In The Dark). Hier, am Cervelat-Stand gegenüber, im Viertel um die Langstrasse insgesamt hat sich Carl-Jakob, als er noch lebte, ausgesprochen wohlgefühlt.

An jedem Morgen und an jedem Abend komme ich jetzt an unserer Sonne vorbei. Danach höre ich immer La Vita (oder gleich Colour of Anyhow).

Derweil kreisen Schwalben um die Türme des Großmünsters. Dort lebe ich.

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19.8.

Den Schweizern von Zürich beim Zahlen zuzuschauen ist mir ein Vergnügen. Wie den Franzosen von Paris beim Küssen vielleicht, den Argentiniern von Buenos Aires beim Tango, den Italienern von Capri beim Mozarellaabstechen, den Engländern von London beim Aufschieben eines Regenschirms.

In Frankfurt war das anders, fiel mir auf. Dort hat mich einzig die Geschwindigkeit fasziniert, mit der die Automaten meine Auszahlungswünsche erfüllen konnten. Wahrlich automatenhaft. In Berlin, vielleicht ein Omen, quietschen und knarren die Servomotoren ja wie gequält, während sie dir die Karte wie eine Ausscheidung wiedergeben. Und die Scheine, die man ebenso mühselig herausbefördert bekommt, sind dann warm und spürbar gebraucht.

In Frankfurt frisch. Und kühl. You drink straight from the source.

Das Papier der Schweizer Franken ist zäh, glatt und dick wie Plastik. Eine einzigartige Substanz.

Die Gesten des Zahlens sind hierzulande mannigfaltig. Der Vorgang selbst hat beiläufig zu geschehen. Smalltalk legt eine herzige Tonspur über das Eintippen der PIN oder das Heraussuchen des Wechselgeldes.

Subtext: Zahlen? Keine große Sache. Hier wendet sich niemand ab wie daheim, um den absurden Verdacht, man wollte eventuell die Geheimzahl kiebitzen, im Vorneherein abzuwenden. Wozu auch? Es hat hier jeder genug, es ist bodenlos tief für alle da.

Dachte ich. Bislang. Aber gestern erfuhr ich, dass es sehr wohl Schweizer in Zürich mit Armutserfahrung gibt. Freilich mit einer Armut, die man als Deutscher niemals als solche erkennen könnte. Die aber in diesem Land derart traumatisierend sich auswirken muss, dass man ein Leben lang als lässiger Zahler erkannt werden will.

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