2022:
SCHÄUMENDE
TAGE
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de
31.1.
Am Vorabend des groß angekündigten Sturmes waren wir zu Besuch in einem jener Randbezirke, wo die behördliche Fantasie sich fadenscheinig zeigt und man die Straßen nach Städten wie Osnabrück benannt hat.
Dabei fiel mir ein, dass eine Möglichkeit zur Überarbeitung Berlins darin bestünde, sämtliche Straßen aufs Neue zu benennen. Und zwar jede einzelne nach einer Stadt oder Gemeinde in der Bundesrepublik. Ich nehme an, dass deren Anzahl dafür ausreichen dürfte.
Um den Sturm sorgte ich mich währenddessen nicht. Das wird das Gute sein, an jener Zeit, den vergangenen zwei Jahren, dass nichts je so schlimm wurde, wie es angekündigt worden war.
Neulich schaute ich auf Phoenix einer Bundestagsdebatte zu und mit einem Mal stand dort Jens Spahn am Rednerpult, der jetzt ja wieder Abgeordneter ist und redete zu einem anderen Thema, aber mir fiel es schwer, ihn dabei nicht mehr als Gesundheitsminister wahrzunehmen; es sind ja nicht bloß Rollen, die man verkörpern kann, aber er hatte — ebenfalls natürlich — noch immer diese Mimik von damals um die Lippen, denselben Duktus, mit dem er, triumphierend, wie es mir damals schien, in der Bundespressekonferenz sagte: «Das ist erst die Ruhe vor dem Sturm.»
Ich nehme an, dass diese Zeit, dass die vergangenen Winter auch ein Tonikum waren für meine Nerven. Gegen meine Ängstlichkeit auch, sodass ich mich heute getrost zu Bett begebe, wenn Sturm angesagt wird und Krieg gegen Russland; und selbst dann noch, wenn, wie in jener Nacht vor dem groß angekündigten Sturm tatsächlich geschehen, wir um 2 Uhr in der Frühe unserem Nachbarn, der Dachdecker ist, begegnen, wie er mit zwei Koffern das Haus verlässt, lege ich mich gleich darauf unter meiner bestickten Decke zur Ruhe und träume von mei’m Eiland im Sonnenschein.
Kann doch gut sein, dass er einen Flug hatte um sieben Uhr in der Früh nach Mallorca und rechtzeitig zum Berliner Großflughafen aufbrechen wollte. Da muss man ja drei oder vier Stunden vor Abflug sich einfinden, sonst schlägt dort das Bodenpersonal Alarm. Habe ich jedenfalls gehört oder gelesen. Selbst von dort aus geflogen bin ich noch nie seit der Eröffnung. Und habe das bis auf weiteres auch nicht mehr vor.
29.1.
An den vergangenen zwei Tagen habe ich nichts mehr von meiner Nachbarin gehört, klopfenderweise, noch nicht einmal ein zartes Pochen, also kann ich wohl davon ausgehen, dass ich auf Anhieb den rechten Schaumstoff gefunden.
Erik linste dann gestern auch gleich mit sogenanntem Kennerblick auf den vibrationshemmenden Belag meiner Campingtischoberfläche. Bei bewusstem Gummigranulat handelt es sich offenbar um sein «Lieblingsmaterial». Da wir beide eine Diät einzuhalten hatten, machte ich uns einen Jasmintee. Dabei surften wir etwas im Bestellangebot auf der Seite von Ikea.com umher. Fuhren später, den Tee intus, noch in den Westen, um uns im KaDeWe die von Rem Koolhaas entworfene Rolltreppe anzuschauen, ein längst gehegtes Vorhaben, wozu ich in den letzten Wochen einfach noch nicht bgekommen war, obwohl ich freilich zur Eröffnung dieser Rolltreppe eingeladen gewesen war.
Anne Demmeulemester, das fiel mir dann während unseres gegenseitigen Vorführens eleganter Herbstmäntel ein, ist im Grunde die einzige der sogenannten Antwerp Six, die keinen Sellout nötig hatte und noch immer unter eigenem Namen entwirft. Schade, dass ich mir ihre herrlichen Kreationen noch nicht einmal in der saisonalen Hölle des Winterschlussverkaufs leisten kann 😔
Aber im KaDeWe kann man sich jetzt auch piercen lassen!
Muss man denn wirklich noch immer absolument moderne sein?
Heute früh jedenfalls einen Bumper-Sticker bestellt «Don’t come knockin‘ when the Van is rockin’» — vintage, versteht sich. Der wird dann quer über die Wohnungstür geklebt.
27.1.
Auf Anraten meines Vaters, einem Experten für die Fragen von Akustik und Schwingungen, mache ich seit heute Versuche mit diversen Schreibtischauflagen, um den Körperschall zu dämmen, der bei meinem Tippen entsteht. Die Auswahl an Schaumstoffen im benachbarten Baumarkt ist erstaunlich groß. Ob auch erfreulich, weiß ich noch nicht. Dies könnte sich zu meiner Matratzen-Odysee entwickeln.
26.1.
Late at night in the typewriter light… klopfte es also an meine Tür. Draußen stand der Nachbar. Beziehungsweise der Mann, der unter uns wohnt, und fragte mich, woher dieser Lärm rührt, der seine Frau am Einschlafen hinderte. Ich sagte ihm, dass ich schriebe.
«Sie schreiben?» sagte er und machte dabei ein Gesicht, dass ich ihm seinen Unglauben tatsächlich abnehmen konnte. Also bat ich ihn herein, um ihm meine Tastatur zu vorzuführen — wie bei Woody Allen, wo der Psychoanalytiker seine Tabakspfeife vorzeigt wie eine Hundemarke.
Mein Nachbar zeigte sich jedenfalls erstaunt, wie unlaut sich mein demonstratives Tippen im Raum doch anhörte in seinen Ohren, denn seine Frau hatte ihm gegenüber behauptet, dass es für sie so laut gewesen war «als ob sie Stepptanzen oder so etwas. Wir schlafen direkt hier drunter», fügte er noch hinzu, woraufhin wir beide auf den selben Fleck Fußboden schauten — betreten, wie es üblicherweise in solchen Situationen heißt.
In dem Zusammenhang fand ich es freilich besonders lustig, dass ich ja noch immer an einem Campingtisch schrieb. Aber irgendwann kommt wohl für jeden die Zeit, das Camp aufzugeben oder zumindest in etwas Solideres umzuwandeln.
Diese Phase des Überganges — Abschied vom Camp, Übersiedelung ins Alterswerk — ist heikel wie sonst keine im Leben des Künstlers. Wie schief es gehen kann, lässt sich derzeit zum Beispiel an Nie Wieder Krieg studieren: Leider weder Foi Na Cruz noch Apfelmann.
In Italien übrigens, das fiel mir aber ärgerlicherweise erst ein, als ich meinen Nachbarn schon wieder hinauskomplementiert hatte, halten sämtliche TV-Moderatoren einen Kugelschreiber zwischen Mittel- und Zeigefinger, obwohl sie mit ihrem Zigarettenersatz natürlich nie etwas notieren. Der Kugelschreiber ist wie die Tabakspfeife des Psychoanalytikers zum Zunftzeichen der Fernsehjournalisten geworden. Was auch sonst? Die Mikrofone sind ja tatsächlich ins Mikroskopische geschrumpft.
Aber weiter im Text.
25.1.
Das könnte ich nicht so stehen lassen.
Am Tag darauf, da schon auf italienischem Gebiet — wir waren auf der Route der alten Via Aurelia nach Sanremo gefahren —, kam ich zwangsläufig auf die Frage nach dem mediterranen Stil zurück. Das ursprüngliche Problem, der südfranzösische Geschmack, ließ sich von hier, aus der Nähe gewissermaßen, mit der nötigen Distanz betrachten. Am Strand der Stadt der Lieder schaute ich stundenlang einem Greis zu, der es sich, in schwarzen Hosen, schwarzem T-Shirt, auf einem schwarzen Liegestühlchen bequem gemacht hatte. Ich beneidete ihn um seine Untätigkeit, bis mir eingefallen war, dass er vermutlich ein ähnliches Gefühl auskostete, wie ich es auf Bahnfahrten liebe: dass ich nichts machen muss, weil ja schon die Landschaft unermüdlich an mir vorüberzieht. Für ihn, den Bewohner des Meeressaums, sah sich diese Funktion im Wellenschlag erfüllt.
Im schmalen Niemandsland zwischen den Ortschaften St-Paul-de-Vence und Cagnes-sur-Mer gibt es am Rande der beides verbindenden Straße einen großflächig angelegten Freiluftmarkt für Gartenskulpturen. Das umgebende Gewerbegebiet hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, seitdem ich Anfang der neunziger Jahre beinahe zufällig zum ersten Mal dort entlang gefahren war, erheblich verändert. Damals gab es dort rings um die kleine Küstenklinik vor allem Swimming-Pool-Händler, Lagerhallen und Autowerkstätten, Tankstellen, Bäckereien, Hähnchenbratereien und ähnliches, mittlerweile wurden dort Einkaufszentren im californischen Stil errichtet. Showrooms. Am Kreisverkehr gibt es in der Mall Polygone Riviera sogar eine Filiale von Uniqlo («Von Tokyo an die Côte d’Azur»).
Und an eben diesem Kreisverkehr steht seit ein paar Jahren auch ein Bürogebäude, das im Grunde wie die Kaaba aus einem schwarzen Würfel besteht. Ich sage im Grunde, denn dieser Würfel hat sich scheinbar soeben geöffnet, er hat sich horizontal in zwei Hälften eines Würfels geteilt, zwei Quader auf quadratischem Grundriss, die aus den schwarz verspiegelten Fensterscheiben des Gebäudes bestehen und in der Lücke, die zwischen diesen beiden auseinandergefahrenen Würfelhälften entstanden ist, schaut das silberne Gesicht eines silbrigen Kopfes auf den unermüdlich im Kreis herum gelenkten Strom der Fahrzeuge. Das ist, was ich mit dem südfranzösischen Geschmack meinte. Und wie er sich verändert hat.
Denn seitdem es diesen Kopf aus der Kaaba gibt — im benachbarten Nizza steht in der Nähe des Place Garibaldi ein Gebäude, das ebenfalls aus einem Würfel besteht, der mit einer Büste verschmolzen wurde, allerdings trägt hier ein menschlicher Hals aus Beton den Würfel anstelle eines Kopfes —, hat sich auch das Sortiment des gegenüber gelegenenen Freiluftmarktes für Gartenskulpturen gewandelt: Anfang der neunziger Jahre und die Neunziger hindurch über die Schwelle zum neuen Jahrtausend hinweg gab es dort Gipsfiguren um griechisch-römischen Stil. Auch Vasen und Säulen, alles vorwiegend weiß oder in den Schattierungen von Terrakotta. Seitdem nun der Silbrige seinen Kopf aus der Kiste streckt, stellt der Freiluftmarkt keine antikisierenden Götter und Helden mehr aus. Auf denselben Rasenterrassen werden jetzt aus Kunstharz gegossene Tiere in strahlenden Primärfarben ausgestellt. Vor allem Gorillas. Der Riesenaffe schien mir dort überhaupt ein beliebtes Sujet, ungefähr so, wie einst die Trikolore. In St Tropéz schaute ich kurz in ein Café, in dem ein übermannsgroßer, in Blau, Weiß und Rot lackierter Gorilla aus Kunstharz zum Sprung über die Theke ansetzend montiert war…
Ich musste freilich an Houllebecq denken, der ja von einem neuen Götzenglauben schreibt. Vermutlich hätte ich ohne das Wenige, das ich von seinem Roman gelesen hatte, die Veränderung im südfranzösischen Geschmack zwar bemerkt, aber anders bewertet, eingeschätzt, erinnert.
Jan Assmann weist darauf hin, dass das Wort für das Erinnern im Englischen to remember aus dem Osiris-Kult hervorgegangen ist. Erinnern heißt, nach Assmann, die einzelnen Teile des zerschmetterten Osiris zusammensetzen, ein Ganzes wieder herzustellen. So wie es war, wie es gewesen sein soll, muss. Müsste?
«Zu den Privilegien des Genies gehört das Recht zu langweilen», schreibt Gracq. Der Satz fällt ihm am Ende seines Großen Weges ein — zumindest steht er dort in dem Buch an dieser Stelle, bevor er über Proust schreibt, davor schaut aber noch der beinahe hundertjährige Ernst Jünger zum Mittagessen bei ihm vorbei, bis dann mit den «Treibhäusern des Katholizismus» die Sache endlich aus dem Ruder läuft.
Unweit der Strandpromenade von Sanremo gibt es eine Gasse, auf deren Mitte eine ziemlich lustlos geformte Bronzeskulptur eines gewöhnlich aussehenden Mannes mit Föhnfrisur steht. Dabei handelt es sich offenbar um ein Denkmal für den verstorbenen Fernsehmoderator Mike Buongiorno.
Später am Abend, als wir, an der Olivenstadt Imperia vorbei, in Mailand angelangt waren, zeigte unser Bildschirm im Hotelzimmer eine Endlosschleife eines Imagefilms der Hotelkette, einem Spin-off der Marke Hilton, zu dem unser Haus zu gehören schien. Der Film spielte größtenteils in sonnigen Gefilden der vereinigten Staaten. In einer Szene war eine Brillenträgerin zu sehen, die ein Buch von Michel Houllebecq las: eine amerikanische Ausgabe von Serotonin.
Late at night, in the typewriter light
She ripped his ribbon to shreds.