2021:
SCHÄUMENDE
TAGE
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de
29.9.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage haben Schmetterlinge meine Nähe gesucht. Durchaus bewusst, wie es mir scheinen will.
Das erste Mal am Sonntag, da noch in Erfurt, als ich, vor einem Starbucks sitzend, ihn aus der Weite des Bahnhofsvorplatzes kommend sah: Gaukelnd, wie es bei Stifter heißt, schwebte er allmählich ein, um sich auf meinem rechten Knie niederzulassen. Und blieb dort noch eine Weile lang sitzen — bevor dann ich gehen musste, nicht etwa er.
Dann heute früh, kurz nach halb zehn, flirrte (JB) ein anders Gemusterter zur geöffneten Balkontüre herein, um sich, nach schmetterlingsspezifischen Aktivitäten, die mir als getanzte Überlegungen erscheinen wollten, auf dem Rahmen eines Gemäldes von René Kemp niederzulassen. Einer Malerei übrigens, die ein Mädchen zeigt, in viel zu kurzem Matrosenkleid, das in einer Ausgabe der F.A.Z. blättert. Sow wie ich selbst auch, in diesem Schmetterlingsmoment. Und wieder verharrte auch jenes Exemplar eine erstaunlich lange Weile lang in meiner Gegenwart.
Die Frage ist ja für mich nicht, ob das etwas zu bedeuten hat, sondern, warum lieber nicht? Woher die Wahrscheinlichkeit?
Mit Kemp übrigens, wir sagen seit neuestem Du zueinander, am Montag nachmittags einen ausführlichen Spaziergang durch den Westen unternommen. Dabei ging es um Sprache, was sie kann. Im Nachhinein war es freilich das Gespräch selbst, das am allermeisten dazu zu sagen gehabt hatte. Aber ist das nicht immer so; sowieso?
Darauf reimt sich «idk».
26.9.
Auf nach Suhl, auf in die Waffenstadt! Der Slogan am Pavillon des Fremdenverkehrsvereins lautet «Suhl trifft».
Seitdem ich vor ein paar Monaten die investigative Reportage zum neuen Sturmgewehr der Bundeswehr von Peter Carstens gelesen hatte, hegte ich nun schon diesen Wunsch das Städtchen zu besuchen, in dem die Standardwaffe beinahe produziert geworden wäre. Die Erzählungen von Erik über die Bürger von Suhl, die einst als Schildbürger der DDR berüchtigt waren, hatten ein Übriges getan, um den Wunsch nach meinem Suhlfahren größer zu machen. Gestern, am Vortage der großen Wahl war es nun endelijk endelijk soweit.
Wir kamen aus der Tiefe des Erfurter Beckens (Bohrer) und auf Anhieb gefiel es mir in Suhl vom Anblick her gut. Dass dort überall mit den Plakaten von Hans-Georg Maaßen tapeziert worden war (sogar in den Schaufenstern der Mohren-Apotheke am Diana-Platz) störte mich weniger, als die mangelnde Verfügbarkeit sehr guter Bratwürste, derentwegen ich u.a. die Reise nach Thüringen, ins «Grüne Herz Deutschlands» auf mich genommen hatte.
Visavis von Maaßens Abbild hatte es allerdings ein Gastmahl Des Meeres™ — eine Filiale, wenn nicht sogar die letzte, der legendären Fischschnellrestaurants der DDR. Und diese von Suhl sogar extrem gut erhalten, wenn nicht derestauriert: An einer der mit echtem Holz verschalten Wände hingen sämtliche Preise und Auszeichnungen des volkseigenen Gastronomieverbandes in Form des sogenannten Goldenen Fisches. Die fischförmigen Plaketten datierten durchgehend vom Jahr 1979 (die DDR hatte ihre Fischereirechte für die Ostsee im Vorjahr gegen Devisen verscherbelt) bis 1988. That’s urban archaeology!
Während wir unsere Fischsoljanka auslöffelten — die Suhler wurden in der Alten Zeit als Löffelschnitzer verhonepipelt — rezitierte ich das Lied vom Fisch Fasch und seinem weißen Arsch.
Draußen, vor dem Fenster blinzelte Maaßen durch seine Butzenscheiben.
Wie ich niemals würde müde werden zu erklären: Brecht hat immer recht.
24.9.
Was es wohl zu bedeuten hat, dass mir die Haare immer langsamer aus der Kopfhaut sprießen, die Fingernägel hingegen immer nur noch schneller nachzuwachsen scheinen? Bald werde ich eine neue Schere brauchen (oder besser die alte zum Schleifen bringen?)
Beim Hautarzt: Während er mir mit seiner leuchtenden Lupe die Fußsohlen kontrolliert fragt er mich, wie es denn liefe, mit dem Schreiben. Ihm bleibt halt gar nichts verborgen. Aber wie sich herausstellt, ist er auch dort quasi bewandert, sein Nachbar — «Nein, nicht hier: in der Uckermark» — ist nämlich Dichter. Sogar Büchnerpreisträger. Ich habe freilich eine Ahnung, um wen es sich handeln könnte; weiß sogar ziemlich präzise, um wen es geht.
Im sog. EG sind die neuen Nachbarn eingezogen. Als erste Amtshandlung fällen sie den schönen Kirschbaum im Vorgarten. Mit zweieinhalb Motorsägen. Sogar der Sohn im Teenageralter besitzt eine eigene, wenn auch kleine — vielleicht zur Konfirmation…?
Heißt hier ja noch immer «Jugendweihe».
Morgen nach Suhl™.
23.9.
Beim Abendbrot erfahre ich, dass heute der Weltgebärdentag angesagt war. In der Landesschau wird eine Gebärdendolmetscherin gezeigt, die soll die neuesten Kürzel aus der Gestensprache für die drei Kanzlerkandidaten vorführen: Die Gebärde für Baerbock besteht aus einem zweifachen Scherenwedeln unterhalb des Ohrläppchens «weil Frau Baerbock häufig lange Ohrringe trägt». Für «Scholz» wird dessen imaginierter Mönchsschädel mit geschlossen gehaltenen Scherenfingern andeutungsschwängernd umkreist.
Dabei fiel mir freilich meine Bettlektüre ein, in der Massimo Montanari vom Schweigegelübde der Benediktiner erzählt hatte. Die hatten, um schweigend trotzdem miteinander in Geselligkeit tafeln zu können, einen ausufernden Katalog von Gesten und Gebärden erfunden, mit deren Hilfe sie in aller Stille lebhaft sich über die Natur und die Qualität ihrer aufgetragenen Köstlichkeiten unterhalten konnten.
Akustische Maultaschen, gewissermaßen.
Wir wissen heute, schreibt Montanari, weitaus mehr von der Lebenswelt der Benediktiner aus diesem Katalog ihrer Gesten als von ihren übrigen Aufzeichnungen.
Die Gebärdendolmetscherin in der Landesschau betonte übrigens, dass die sogenannte Raute der scheidenden Frau Merkel in Gehörlosenkreisen als Gebärde verpönt sei, denn dort stünde sie halt für «die Vulva».