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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

05.03.

Am Vorabend des Abflugs kehrte ich auf dem Heimweg noch in einer dieser neuen Spielhöllen ein. Ein schmuckloser Raum, wie man meinen könnte, allerdings bestand der Schmuck dort halt aus oder in den sechs, sieben Spielautomaten, die in ihren hölzernen Rahmenkästen tatsächlich so wirkten wie Bestandteile einer Kunstinstallation.

Außer mir befand sich noch ein anderer Mann in diesem Raum. Sitzgelegenheiten, etwa um es sich vor den Automaten bequem zu machen, standen nicht zur Verfügung. Der Spieler attackierte seine Roulettedarstellung wie eine Scheibe beim Dart.

Er lud mich ein, vom Platz neben ihm aus mein Glück zu versuchen. Ich fragte, ob ich eines der im Standby befindlichen Geräte fotografieren dürfte. Er verwies mich in eine Ecke des Raumes: «Ask the lady.»

Dort, wohin er gezeigt hatte, war niemand zu sehen. Lediglich eine Art raumhohe Kabine, deren kleine Öffnung, ungefähr auf Höhe meiner Gürtelschnalle, ich erst beim zweiten Hinsehen entdeckte. Offenbar wurde der Raum durch diese Öffnung hindurch aus dem Inneren der Kabine heraus von einer weiblichen Aufsichtsperson überwacht.

Wie bei Kafka beugte ich mich hinunter, um in die Öffnung hineinzusehen aber da war nichts außer einem grünlichen Leuchten, dem Abglanz der Straßenlaternen.

«Hello, may I take a picture of one of the machines», rief ich in die Öffnung hinein.

Die Antwort kam prompt. «I don’t think so.»

And that was that.

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04.03.

Mittlerweile ist hier in Berlin der Frühling eingetroffen und lässt die hinter mir liegende Zeit noch ferner erscheinen. Im Sinne von erledigt; die überstandene Krankheit als die vergangenste meiner Zeiten.

Ich konnte nichts tun. Nicht schlafen, nicht lesen, nicht einmal fernsehen. Musikhören wurde auch bald zuviel. Lediglich lagernd auf meinen Atem zu achten war mir noch gestattet — von wem? Dabei vermied ich es, obwohl es mich offenbar danach drängte, die Hände über meinem Brustkorb zusammen zu legen. Weil nur Sterbende diese Haltung einnehmen. Das hatte ich aus dem Zauberberg.

Dann, eine Zeit später, die schwangere Katze dabei zu beobachten, wie es sie in ihrer Lage vor das Telefon drängt, aus dem die Music For Cats spielt. Klänge, die ihr Linderung brachten. Ein Medikament.

Abends stiegen wir unseren Hügel hinab, um uns unter die Leute des Hafenstädtchens zu mischen. Die besten Bars dort erkannte man schon von der Straße aus durch die offen stehenden Türen daran, dass dort die Wirtin mit dem Kopf auf den Tresen gestützt schlafend ihren Dienst tat.

Übrigens hatte sich auf der Insel seit Corona vor allem eine Sache verändert: Jetzt gab es Spielautomaten. Und zwar, wie in solchen Staaten üblich: auf der ganzen Insel vor allem nur einen einzigen Typ Automat, der hieß «Roulette». Sein geradezu antik wirkender, grob auflösender Bildschirm, der zudem quadratisch war und in einem Gehäuse aus Holz steckte, zeigte auf blauem Grund den flächig dargestellten Roulettekessel.

Ob es darüber hinaus an dem Gerät noch Bedienknöpfe gab, ob er einen Münzschlitz für 10-Dollar-Münzen hatte (die nach wie vor das Profilrelief von Marcus Garvey zeigten) — alles vergessen, beziehungsweise gar nicht erst gemerkt.

Bloß, dass überall alle immer vor diesen Automaten saßen.

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29.02.

Die Zeit mit der Krankheit und, danach, die Zeit mit Mango hatten meine Empfindsamkeit für Tag und Nacht geschärft. Tag=Zeit des Heils, Nacht=Zeit für Furcht. Wer die Nacht über wacht, sie nicht durchschläft, fühlt sich dem Tod näher gerückt. Und mit jedem Sonnenaufgang kommt die Erlösung.

Warte, bis es dunkel wird. Die Nacht als Lebensraum, als Welt und dann, mit einem Mal: als Sphäre, in der Tod passieren wird. Vermutlich hatte ich deshalb, nach dieser Erfahrung der in Atmenot durchwachten Nächte, in unserer Wette darauf gesetzt, dass Mango ihre Kinder bald in einer Nacht, nach Einbruch der Dunkelheit zur Welt bringen würde (der Einbruch der Dunkelheit ist dort gleichbedeutend mit dem Beginn der Nacht, es wird blitzartig dunkel). Um mein verdrehtes Nachtgefühl zu wenden.

Tage später kam dann die Email, dass von den ursprünglich fünf Katzenkindern, die mittags im Wurfhäusle geboren wurden, nur eines am Leben geblieben ist. Auf den Fotos, die noch immer den pistazienfarbenen Fußboden der einst von uns bewohnten Hütte zeigen, ist es auf der schlafenden Mango zu sehen. Die weindunklen Augen himmelweit offen.

Jung, brutal gutaussehend. Wir nennen es Blue.

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28.02.

Tage später war Mango so stark angeschwollen, dass sie sich kaum noch bewegen konnte. So lange die Sonne schien, hatte es 30 Grad, nachts kühlte es nur unwesentlich ab. Die Katze lag auf den Brettern des Fußbodens im Luftstrom des Ventilators und schaute vor sich hin. Zu erschöpft, um einzuschlafen. In ihr war tatsächlich viel los. Man kennt’s.

In älterer Literatur heißt es bei solchem Anblick, er sei «zum Gotterbarmen». Um irgendetwas zur Erleichterung beizutragen, suchte ich ein Album mit dem Titel Music For Cats heraus. Insbesondere das Stück «Calm Your Cat Down: Alpha Binaural Beats, Music With A Wide Frequency Spectrum» von Torsten Abrolat schien es ihr angetan zu haben. Manchmal gingen wir aus und kamen erst vier Stunden später wieder. Dann lag Mango noch immer vor dem Telefon und schaute vor sich hin. Am Morgen, wenn ich das Abspielen startete, beeilte sie sich im Rahmen ihrer geschwollenen Möglichkeiten, um nah vor den winzigen Lautsprechern an der gläsernen Scheibe des Gerätes lagern zu können.

Diese Präferenz für das Stück war bemerkenswert, da auf Jamaika, wie man sich leicht vorstellen mag, von überall her Musik herangeweht kommt — teils auch leider. Aber die speziell für das Katzenohr produzierten Klänge waren anscheinend besonders.

Die Geburt haben wir dann um nur wenige Stunden verpasst. Wie uns später mitgeteilt worden war, geschah sie noch am Tag unserer Abreise um die Mittagsstunde. Oder trug sich zu. Das war einerseits natürlich schade, dann wiederum auch nicht, denn Krankheiten — und ich zähle eine Schwangerschaft durchaus dazu — sind sonderbare Reisen, die man miteinander durchmachen muss. Oder sollte.

Und einen großen Teil des Weges hatten wir mit Mango gemeinsam hinter uns gebracht.

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27.2.

Nach durchlittener Krankheit erkennt man sein Leben in verändertem Licht. Neu ist es nicht unbedingt, doch tritt mitunter Vetrautes, Bekanntes in anderer Bedeutsamkeit hervor. So auch die Sache mit Mango.

Mit uns war eine Katze in dieses Heim auf dem Hügel eingezogen. Schwanger. Gleich bei unserem ersten Zusammentreffen dachte ich, ihre Niederkunft steht bald bevor. Keine Sache von Dauer. Das war mein Gefühl.

Und wir nannten sie Mango. Das Schauspiel des Lebens auf einem bewaldeten Hügel hoch über einem jamaikanischen Hafenstädtchen ist alles andere als öde aber manches Mal fühlt man sich müde vom Schauen und auch vom Beobachten. Also malten wir auf einen Teil der Fassade unseres Holzhäuschens mit herumliegenden Wasserfarben ein Bild. Die schwangere Katze war dort bald zu sehen, liegend, dämmernd, wie sie auch hinter dieser Fassade die meiste Zeit der Tage und Nächte zu finden war. Nachts schlief sie stundenlang zwischen uns, verschwand dann für einige Zeit, um ihrer Arbeit nachzugehen, draußen, im vom Schnarren der Lizards wie sich selbst absägenden Finsterwald; um dann aber pünktlich zu jedem Tagesanbruch wieder vor den drei übereinander gestapelten Bierkisten, auf denen unser Kühlschrank aufgebockt war, zu lagern; um dort ihr Frühstück zu erwarten.

Einmal verschluckte sie einen Croaking Lizard mit Stumpf und Ringelschwanz. Wir kauften ihr dosenweise Katzenfutter der Sorte Paté in einem Shop für landwirtschaftliches Gerät nebst angegliederter Samenhandlung (Grünkohl, Rübchen, Zwiebeln, Karotten).

Manchmal wurde von Kuba oder Haiti, vielleicht auch vom etwas weiter entfernten Florida etwas Internet zu uns herüber geweht. Dann las ich Texte über die Katzengeburt.

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