Zum Inhalt springen

2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

11.12.

Mit Sebastian durch die vorweihnachtlich geschmückte Innenstadt von Hamburg. Prachtvolle, kegelförmige Weihnachtsbäume, von glitzernden Lichtern überzogen wie die sterngeschuppte Schlange bei Victor Hugo.

Im Vergleich zum Neuen Wall in seiner aktuellen Ausprägung nimmt sich die Züricher Bahnhofsstraße geradezu bescheiden aus.

Später in dem von Jürgen Dollase hochgelobten Restaurant am Fuße des Elbphilharmoniegebirges: Der von ihm gepriesene Rotwein aus dem Libanon war inzwischen, seit dem Erscheinen des Textes im Oktober, leider ausgetrunken. Der Sommelier, mittlerweile von Dollase zum Sommelier des Jahres ernannt, empfahl uns einen aus Kanada (und ich dachte an Joni Mitchels Stimme in A Case Of You).

Außerdem im Angebot: Süßwein aus Schweden, Schaumwein aus Sussex… Draußen trieben goldene Lichter auf den schwarzen Wellen im Kanal.

Zumindest in der Weihnachtszeit ist Hamburg unvergleichlich schön.

Weiterlesen

7.12.

Das schönste Geschenk zum Picolaus war ein Band sämtlicher Ausgaben der F.A.Z. aus dem Monat meiner Geburt (man bindet sie im entfalteten Zustand, dadurch gerät der Band freilich recht groß, beinahe unhandlich).

Die Lust darin zu blättern scheint mir unaufhörlich — obgleich ich nicht behaupten könnte, ihn gern zur Hand zu nehmen, da dies Gerät dafür «nicht zuhanden genug» (Heidegger)& s.o.

Wie gut die Seiten damals noch ausschauen durften! Maßgeblich wirkten daran auch die Anzeigen mit — vergessene Produkte, ganze Welten darunter, die einst sich bestimmend ausgewirkt haben. Einige davon gibt es heute noch.

Ein im Jahr 1971 erfolgreicher Hochspringer wird interviewt, im sogenannten Beweisbild (Schwarzweiß) ragt ihm eine glimmende Zigarette aus den Lippen. Ich lege die von ihrem Format her beinahe gleich dimensionierte Ausgabe von heute daneben: Der Bundeskanzler, in Farbe, auf seinem Staatsbesuch in Albanien. Man muss ihm zugute halten, dass der Präsident Albaniens über zwei Meter misst. Aber da ist noch etwas anderes als die schiere Größe. Olaf Scholz scheint mir zierlich im Vergleich. Zu dünn gefeilt, wie es im Missingschen heißt.

Ich beginne mit der Lektüre seines Essays über die deutsche Außenpolitik, den er in air droppe mir den Link auf den Bildschirm des iPads, wo meinen Augen mehr Freiheit gewährt wird, umher zu schweifen.

Neulich erzählte mir jemand, dass die Zeilenbewegung der Augäpfel beim Lesen den Darm stimulieren kann?

Weiterlesen

6.12.

Wenn man in der Nacht um 3 Uhr 12 präzise aufwacht und diese Situation geht nahtlos über, mündet in eine Plauderei der herrlichsten Art, liegt man richtig.

Weiterlesen

5.12.

Verwegene Idee: Vielleicht sind mir die Teenager gerade so fremd geworden, weil ich glaube, dass ich sie verstehen können müsste (aufgrund der vorgeblichen Verbundenheit).

Vielleicht habe ich mich gerade deshalb so von ihnen entfremdet — ziehen sie sich deswegen vor mir in diesen wattwurmhaften Verständnisröhren zurück?

Habe eine Zuneigung zum Œuvre von Matt Valentine entwickelt, die ich als fatal empfinde (aber nur halb)

Sein Selbstbewusstsein «The next song was recorded on Heroin» — aber, gut: Es klingt halt auch dementsprechend.

Wahrscheinlich erinnert man sich hier in der Stadt auch eines Tages an die psychopharmakalischen Jahre. Allzu viele werden es dann wohl nicht gewesen sein.

Anji- Variations: Wie viele Tage, Nachmittage und Abende ich wohl damit verbracht haben werde, dieses kleine Stück zu meistern!

Weiterlesen

4.12.

Zum Hackeschen Markt um Tee zu kaufen — die östliche Stadtmitte ungewohnt leer an Menschen, weil es sanft und feucht zu schneien begonnen hatte.

Der Tee heißt Hunky Dory, eine Mixtur. Und später in einem vietnamesischen Lokal pulsierte eine Swastika aus rosa Leuchtdioden über dem Altar für die Ahnen, darunter die Räucherstäbchen nebst Orangen, alle paar Sekunden wurde das Sonnenzeichen von einer Lotusblütenhaften Formation aus noch viel mehr Leuchtdioden ringsum überflutet.

Die Furore hielt sich in Grenzen, als KanYe West, formerly known as artist, im schwarzen Morph Suit by Balenciaga in der TV-Show «Info Wars» drei Stunden lang über seine Verehrung Adolf Hitlers einherlaberte.

Die Leute sind müde, die Leute wollen auf gar keinen Fall, das noch mehr los ist.

Abends hörte ich eine Radiosendung nach mit Liedern über Schnee. Gleich das erste war eine wunderschöne Version von Snow Is Falling in Manhattan. So zauberhaft, dass ich eine nächtliche Email schrieb an den Host der Sendung, ihn zu fragen, von wem diese Coverversion ist.

Heute früh fand ich eine Antwort, eingetroffen nur wenige Minuten, nachdem ich zu Bett gegangen war: «Hi, thank you. No cover, that’s the original!»

Dass man theoretisch mit beinahe jedem auf der Welt in Verbindung treten könnte, trägt nichts weiter bei zu einem Gefühl der Verbundenheit. Paradoxerweise.

Hunky Dory, wusste Siri, ist ein Studioalbum von David Bowie, erschienen im Jahr meiner Geburt. Ein Lied heißt Andy Warhol — undenkbar scheint für mich geworden, dass heute noch ein Lied aufgenommen würde unter dem Eindruck der Werke eines lebenden Künstlers; dass eine:r noch etwas dafür hinreichend Zeichenhaftes hervorbringen könnte (es sei denn vom gehandelten Preis her, aber den meine ich mit zeichenhaft freilich nicht).

Weiterlesen