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2021:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

30.10.

Offenbar wurde unser Haus unter dem Knotenpunkt von gleich mehreren im Vogelzug stark beflogenen Nord-Süd-Linien erbaut (einst, damals zu Anfang des als verrückt beschriebenen 20. Jahrhunderts).

Heute früh waren es Enten, die in Keilformationen, darin selbst als Schattenrisse schwarz, geschäftig quakend ihres Weges flogen. Später kamen noch Störche nach, ein stiller Orden, in dem Klappern angeblich zum Handwerk gehört, der aber unterwegs nach Afrika die Klappen zu halten versteht — aus aerodynamischen Gründen, vermute ich.

Krähen schwebten abends ein, die Felder in Brandenburg scheinbar abgefrühstückt, und das Barometer zeigte kurz vor Sonnenuntergang am Ende dieses luftig klaren, beinahe schon gläsernen Tages. Indian Summer, pazifisches Licht.

In manchen Teilen dieser Stadt fällte es ja leicht zu vergessen, dass hinter ihren Grenzen, draußen, einfach nur noch Landschaft kommt. Mit Feldern und Wiesen. Tieren, Natur.

Am Wegesrand sah ich heute eine Felgenabdeckung liegen, ein wenig mit buntem Laub bedeckt, in deren Mitte war ein Flügel abgebildet und darunter in silbrigen Großbuchstaben «Goodyear».


It was a very.

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29.10.

Beinahe November und noch immer stehen hier überall die Erdbeerhäuschen, in denen die Verkäuferinnen und Verkäufer Erdbeeren zum Kauf anbieten. Ich finde das grotesk; irgendwie auch konterrevolutionär. Aber zu einem veritablen Rant fehlt mir die Wut. Um Wüten zu können bin ich zu heiter gestimmt.

Erdbeeren und Thymos, beide rot, beides eine Frage der Temperatur.

Und wenn Du wählen müsstest zwischen Trap und Drill?

In der Post war ein schmaler Katalog mit Bildern von Dietrich Orth «Acht Outsider». Viel mehr gibt es nicht.

Und was es für mich noch begehrenswerter macht: Er ist zu früh gestorben. Das ist keine Strategie.

Wohingegen das nächste Album von Tocotronic Nie Wieder Krieg heißen soll Punk(t)

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28.10,

Jetzt sind die seltenen Tage, da die Uniform der DHL-Boten sich harmonisch in das Bild der Straßen fügen. Wo Bäume stehen: Einen sah ich, wie er nach einem langen Gang im Schatten vor den Häusern die Lichtung vor der Kreuzung erreicht hatte, wo alles voller Lindenblätter lag. Er hielt inne, wie ein Reh vielleicht, das in seiner Welt auf eine Lichte tritt, und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Ihre Wärme spürend, wie das Licht durch die geschlossenen Lider seinen Blick rot einfärbt. Und quer über seinem gelben Rücken der rote Balken DHL.

Jetzt ist die beste Zeit für den Dichter, sich noch einmal anzufüllen mit der Luft und ihren Düften, mit dem Licht und seinem Spiel zwischen schwarzen Stämmen, auf denen der Schatten fallender Blätter zu Boden huscht wie ein Tier. Schon ist es verschwunden. Im Grund.

Neulich hat jemand geschrieben, warum Asphalt dunkel sein muss. Das wurde wohl so entschieden. Ich habe vergessen, warum.

Irgendwann, vor gar nicht langer Zeit, als die Welt noch nicht durchsichtig war.

Schon am Morgen hatte ich den blauen Himmel gespürt, mit seiner Ankunft war jederzeit zu rechnen. Schon färbte sich über den Firsten der Dächer ein Saum gelblich ein. Wie eine lichte Flüssigkeit. Vom dunklen Schwebstoff eingesogen. Boards of Canada. Und am Himmel zwei Parallelen von West nach Ost und im rechten Winkel dazu: wieder zwei, auch parallel von Norden nach Süden.

Ein Hashtag also, damit fing die Ernte an.

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27.10.

Mittags mit Alexander in jenem koreanischen Restaurant an der Prinzenallee, von dem ich schon so viel gehört hatte: Beispielsweise dass es von einem älteren Paar betrieben wird; dass dort ausschließlich Mittagessen angeboten wird und es auch immer nur ein Menü gibt, das dafür alltäglich wechselt.

Wir saßen in dem einzigen Raum, der sich zur Straße hin offen zeigt, eine hohe Decke hat und mit nur wenigen, wie beiläufig zusammengestellten Möbeln eingerichtet ist, «schön leer». In einem schier endlosen Bücherregal drehte sich eine Schallplatte auf einem Plattenspieler, dem Plattenspieler von Technics. Die sogenannte Nadel hatte vielleicht schon vor Stunden die Auslaufrille erreicht.

Alles, auch das Aroma des herbstlichen Reisgerichts, die auf besondere Weise entkernten Apfelschnitze, die als Dessert gereicht wurden und dass sie mit Limettensaft eingepinselt worden waren, um sie vor ihrem Verbräunen zu bewahren, deutete auf die anstehende Gentrifizierung der Prinzenstraße hin. Im Nebenhaus residierte ja seit einigen Wochen schon die gläserne Manufaktur von Möbel Horzon.

Während wir aßen und währenddessen aus dem Hintergrund die Klaviermusik von der Schallplatte abgespielt wurde, erzählte ich Alexander von den Bildern Dietrich Orths, die ich in Frankfurt angeschaut hatte und er mir von einem Dokumantarfilm über die Sammlung Prinzhorn. Von außen betrachtet saßen wir in einem Klischee, waren womöglich sogar Teil davon.

Auf dem Nachhauseweg, es war ja beinahe noch frühlingshaft warm gewesen, kam ich an der schmalen Ladentüre vorbei, hinter der sich einst die Smaragd-Bar befunden hatte. Das war lange her und ich war nachdenklich geworden, wie lange sich mein Viertel noch würde halten lassen.

Aber kaum an der Breiten Straße angelangt, sah ich dort Henri Hübchen vor dem Café Rosenrot sitzen und wo Henri Hübchen sitzt, ist noch immer der Osten.

Und wohin ich mich auch wandte, wohin auch schaute, trieben Lindenblätter wie goldgelbe Flocken umher im Wind.

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25.10.

Gestern hatte der Weltspiegel einen Beitrag über die illegalen Holzfäller im Kongo. Bis dahin war mir gar nicht bewusst gewesen, dass der kongolesische Urwald der zweitweitflächigste nach dem von Brasilien ist.

Die Baumwilderer sind natürlich Chinesen. Das Kamerateam war dabei, als einer von ihnen in flagranti gestellt wurde von den einheimischen Waldhütern. Die rauchende Motorsäge noch in Händen machte er ein zerknirschtes Gesicht, während ihn ein vergleichsweise hochgewachsener Zentralafrikaner zusammenstauchte.

Nach meiner traumatischen Erfahrung mit dem ostafrikanischen Rechtssystem war ich jetzt freilich auf einen Einblick in dasjenige des Kongos gespannt. Es gab dann auch prompt eine Szene vor Gericht, die in einer umdekorierten Basketballhalle aufgenommen worden war. Die Schöffen und der Staatsanwalt trugen Harry-Potter-hafte Glanzmäntel, während der Richter in Nadelstreifen auftrat, um den kleinmütig wirkenden Chinesen aus dem Wald recht ungehemmt zusammenzubrüllen.

Gut, aber so ähnlich hatte ich es weilands auch über mich ergehen lassen müssen, bloß dass mein Verfahren in einem Pepsi-Zelt vonstatten ging.

Es wäre bestimmt ganz unterhaltsam, auch frech gewissermaßen, eine Pastiche des Process zu schreiben, in der «jemand Herrn Li verleumdet haben musste, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte» und so fort — und das Ganze handelt in Afrika!

Ob’s aber andere auch lustig fänden?

Ich weiß es nicht. Und eigentlich ist es egal.

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