2025: GOSSIP GIRL
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de
20.10.
Noch vor meiner Heimkehr war ich darüber benachrichtigt worden, dass mein Exemplar von Shadow Ticket dort auf mich warten würde. Spät am Abend öffnete ich mit dem in dieser EMail dargestellten Code, der von einem Laserauge von der Oberfläche meines Telefonbildschirmes abgelesen wurde, eine Klappe in dem kommunalen Nachtbriefkasten, in dem das Buchpaket während meiner Abwesenheit deponiert worden war.
Dieser Vorgang gehört zu einer ganzen Reihe von angenehmen Selbstverständlichkeiten meines Lebens, die ich mir vor dreißig Jahren noch nicht einmal hätte vorstellen können. Auch, dass ich eines Tages mit meiner Armbanduhr würde bezahlen oder Bahnfahren können. Zwar besaß ich damals schon ein bananenförmig gekrümmtes Mobiltelefon, aber die Fantasie, welche Funktionen künftige Ausgaben dieses Gerätes beinhalten könnten, blieb bei mir auf die kommunikativen beschränkt.
Übrigens finde ich es anstössig, dass in jeder Rezension von Shadow Ticket — die von WTV ausgenommen — geradezu hervorgehoben wird, dass es sich um das letzte Buch von Thomas Pynchon handeln wird. Besonders rührselig verband Andreas Platthaus in seinem Text diese von ihm allein diagnostizierte Endlichkeit der schriftstellerischen Existenz Thomas Pynchons mit seiner, der platthäusischen Leselaufbahn. Sind das lediglich Redakteure, die den Glauben an die Wirksamkeit ihrer Texte schon aufgegeben haben, oder glauben sie tatsächlich, was sie schreiben?
Mit geheimen, nur ihnen zugänglichen Informationen, beispielsweise von des Pynchons Leibarzt, worin ja ureigentlich ihr Geschäft bestünde, hat das ja nichts zu tun. Es gibt diese Informationen über ein nahes Lebensende Pynchons gar nicht. Man wirft es halt einfach an die Wand und schaut, ob die Nudel kleben bleibt.
Bei Ernst Jünger gibt es in einem der frühen Tagebücher diese Erzählung aus dem Wartezimmer seines Zahnarztes. Er sitzt dort und bekommt mit, wie dieser einer Patientin beim Verlassen seines Arbeitsraumes mitgibt, dass er die erforderliche Behandlung bei ihr nicht durchführen wird „das lohnt sich nicht mehr, dafür sind sie zu alt.“
Jünger steht daraufhin auf und züchtigt den Zahnarzt.
Anzunehmen, dass er ihn auch überlebt haben wird.
16.10.
Seitdem ich zum ersten Mal das Wort Bebra gelesen hatte, also circa seit dem Jahr 1987, in dem eine Geschichte über den angeblichen Bebraismus in der Zeitschrift Tempo erschienen war, wollte ich nach Bebra. Also ungefähr schon immer. Aber als ich dann gestern um die Mittagszeit herum in Bebra eintraf, fand ich dort freilich alles in ganz anderer Form vor, als ich es mir vorgestellt hatte.
Gut möglich, dass in der Folge des Mauerfalls auch in Bebra wertvolle Zeitzeugnisse vom Fugenkitt der Ortskernsanierung verschmiert worden sind. Von einem Bebraismus, wie ich ihn mir aufgrund des Artikels ausgemalt hatte, war jedenfalls nichts mehr zu erkennen.
Hinter der Theke der Touristeninformation saß eine Bedienstete, deren Jumbotasse bis oben hin mit einem mager angerührten Heißgetränk der Geschmacksrichtung Cappuccino vollgelaufen war. In einem anderen Becher hortete sie Stifte. Es gab zwei Postkartenmotive. In beiden spielte ein unappetitlich aufgeblähtes Rufzeichen die zentrale Rolle, wohingegen das Arrangement der von diesem Zeichen in den Hintergrund gedrängten Fotoschnipsel recht eigentlich und von daher selbstbewusst auf ein Gewürfeltsein abstellte. Die Frage nach einem Briefkasten konnte die Bedienstete nicht beantworten. Aus nachvollziehbarem Grunde erheiterte sie dieses Nichtwissen. Mit einer übertrieben fahrigen Bewegung schleuderte sie ihren Unterarm, der sich im Hochsommer, wenn man im überfüllten Schienenersatzverkehr auf dem Scheitel einer Kurve an sie gepresst wurde, bestimmt kühl anfühlte, hinter sich, wo das einzige Fenster im Raum, das Aussicht auf Bebra ermöglichte, von einem chinesischen Papierrolo verhängt war, der mit dem roten Rufzeichen bedruckt war: „Auf der andern Seite. In der Stadt!“
Die andere Seite, damit war das Reich hinter den Gleisen gemeint. Bebra war ja, zumindest stand die ständige Ausstellung, deren Eintrittskarten die Bedienstete „auch noch“ verkaufen musste, unter diesem Motto: Eisenbahnstatt seit dem Kaiserreich.
Zum Besuch der Ausstellung fehlte mir die Zeit, auch die Stadt selbst ließ ich links liegen (oder war es rechts?) Der Postkartenkauf, die Litanei der Bediensteten im menschenleeren Kaff, hatten mich schon zuviel meiner Zeit gekostet. Ohne Mühe erreichte ich den zur Weiterfahrt bereitgestellten Regionalexpress der Kasselaner Dienstleistungsgesellschaft Cantus.
Die Karte warf ich während meines Aufenthaltes in Eisenach ein. Immerhin Geburtsort von Johann Sebastian Bach!
14.10.
Über Nacht nach Frankfurt verbracht, vom Gartenrotschwänzchen aus der Mittagsruhe geweckt. Sein silbriger Gesang steigt auf aus einem breiten Band aus aufstrebenden Wassertrieben, auf die ich aus dem vierten Stock der Allee herabschauen kann wie auf einen Strom, der die Lücke bis zu den Fassaden der gegenüberliegenden Seite, dem Ufer in diesem Bild meiner Vorstellung, so vollkommen auszufüllen scheint wie eine Erinnerung.
Auf der Straße geht es sanft bergab. Ich erkenne alles wieder. Man lebt nie in einer anderen Stadt, man bewohnt lediglich einen anderen Teil und kehrt fortan selten nur noch in jenen zurück, den man verlassen musste. Alles, was ich in Frankfurt zurückgelassen habe, ist noch immer da.
Im Garten des Liebighauses fallen die Kastanien in loser Folge auf das Blech der Tische.
Ihre Eingriffe in die ständige Ausstellung dort hat Isa Genzken radikal aus einer Position der Unterlegenheit entwickelt. So scheint es mir. Im Ganzen kommt es mir wie eine blöde Idee vor. Die Aura jeder einzelnen, auch noch so kleinen Büste aus der Sammlung löscht die zeitgenössische Schöpfung mit unerbittlich brummender Strahlung aus. Selbst die mit den christlichen Motiven haben eine um das zigfache stärkere Anziehungskraft. Bloss in dem einen Raum, indem die überlange und zudem senkrecht ausgerichtete Antenne eines ihrer Betonradios zum unerreichbar fernen Oberlicht weist, bekam ich so etwas wie Reibung zu spüren. Eventuell lag das aber an einem UV-Strahl, der, von droben her, den Chrom zum Blitzen brachte.
Draußen schien die Sonne. Unermüdlich fielen die Kastanien. Zwanzig Minuten auf der Berger Strasse mit dem Skin-Treat-Smoothie aus dem Elaine’s sind für mich unterhaltsamer als dreieinhalb Jahre Berlin.
13.10.
Montag, der Dreizehnte, lässt mich auch nicht vollends kalt. Gestern zum Frühstück bei Shakespeare And Sons: Scharfer Bagel mit Lachs zum Lavendeltee. Da wusste ich noch nicht, dass Diane Keaton gestorben war.
Die US-Amerikaner, es kauft oder kehrt dort am Sonntagmorgen kaum jemand von anderswoher stammender ein, nehmen, das fiel mir, einem dort unter ihnen sitzenden Aussenstehenden ein, auf zwiefache Weise ihr Mehr an Raum ein: physisch wie psychisch (ein Satzende, wenn auch bloß vorläufig, das von Leser:innen aus dem Rheinland selbst tonlos gelesen als herausfordernd empfunden werden dürfte). Mein Nebensitzer an der Schaufensterbar beispielsweise hatte seinen Oberkörper und daran auch vor allem die Oberarme in weissgottwielanger Kraftarbeit zu einem bein(sic)ahe alles verdrängenden Umfangreichtum trainiert. Ich wurde buchstäblich aus dem Umfeld seines bojenhaften Corpus verdrängt. Dazu kommen dann noch, ebenso bei den Frauen, die auf Tragweite getrimmten Stimmlagen. Alles an diesen Leuten, sogar ihre Emissionen, sind auf Durchsetzungsfähigkeit angelegt (köstlich in dem Zusammenhang die Szene am norwegischen Frühstücksbuffet in Succession). Nun aber las ich neulich in der Zeitung, was den Proteinkonsum angeht, nähern wir uns den Yankees an.
Draußen vor den Fenstern zogen um diese Uhrzeit vor allem junge Spanier vorüber, ungewaschen, die Hautbilder aufgewühlt, die Motorik desorientiert „Dos azúcares estaría genial“.
In den Räumlichkeiten, in denen sich heute Shakespeare and Sons befindet, war auch früher immer eine Buchhandlung, die freilich ganz anders war. Vor den Schaufenstern standen ständig Grabbelkisten, aber anderer Natur als jene vor The Strand. Es gab auch keine Getränke oder Speisen, also überhaupt gar keine. Nicht einmal Postkarten.
Die Staff Picks im Shakespeare and Sons umfassen auch The Outerworld Of The Innerworld Of The Outerworld von Peter Handke und ein Nebenwerk von Arno Schmidt. Kann gut sein, dass es die sehr schön gestalteten Umschläge dieser beiden Bände sind, die ausgerechnet sie zu Vintage Classics werden lassen in diesem Moment. Bücher sind jetzt Objekte. Nicht auch, sondern ebenso. Wie man es will.
Das wurde im Erdstall, in Wien, erkannt und mit beeindruckender Konsequenz umgesetzt. Konsequent insofern, dass dort nicht allein die Objekthaftigkeit des Buchobjekts erkannt wurde, sondern ebenso die des Lesens, die der Lesung und letztendlich sogar die des Schreibens selbst.
Dass das nicht jede:r erkennen kann, wundert mich in diesem speziellen Fall freilich überhaupt nicht.