2025: GOSSIP GIRL
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de
09.05.
Der Geburtstag von Thomas Pynchon (No 88) entwickelte sich fulminant, am Nachmittag wurde weißer Rauch gesichtet über dem Dach der Sixtinischen Kapelle (Kaliumchlorat, Laktose, Kolophonium). In der Berichterstattung, live, trat eine Schwester der Franziskanerinnen auf und verkündete, dass dieser Papst die Tyrannen des Weltgeschehens zur Vernunft bringen wird. Mich rührt das, weil ich es ja glauben will. En passant wurde noch bekannt, das Günther Nonnenmacher verstorben war. Heute früh steht beides auf der Titelseite nebeneinander: «Günther Nonnenmacher gestorben» und Weißer Rauch». Im Subtext der Abbildung des weiß rauchenden Kamins heißt es: «das Zeichen, dass ein neuer Papst gewählt ist. Wer das ist, war zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht bekannt.» Wie das auf andere wirken mag, kann ich mir vorstellen. Mir macht es diese Ausgabe erst kostbar. Durch diesen Zeitstempel wird sie erst wahr.
02.05.
Die Wohnung eines Nachbarn wird ausgeräumt. Die Tür steht offen, es riecht nach Mensch. Beim Einzug haben wir ihn kennengelernt. Er hatte viele weiße Zähne. Lächeln wie ein Klavier. Er hatte uns erzählt, dass er seit über fünfzig Jahren in dieser Wohnung lebte. Das ist jetzt drei Jahre her. Also über 53 Jahre insgesamt. Diverse Systeme. Von den Männern, die gekommen sind, die Wohnung auszuräumen, könnte, vom Aussehen her, einer sein Bruder sein. Die Dielen sind glänzend in Orange lackiert.
In einer Querstraße finde ich, angelockt von einem Kratzbaum, der dort auf dem Trottoir abgestellt wurde, einen dicken Stapel bemalter Leinwände. Die Bilder kenne ich. Weil wir einst deren Katzen beaufsichtigt hatten, die kurz darauf gestorben waren. Sie waren schon sehr alt. Die ganze Wohnung, die auch nicht groß war, hing voll mit diesen selbstgemalten Bildern. Sie haben sich mir eingebrannt.
Abgängig, wie Onkel Gerd am vergangenen Wochenende einen seiner Apfelbäume genannt hatte. Der machte es wohl nicht mehr lange. In der Krone oben saß ein Baumpilz, wie ich ihn hier auch von den älteren Bäumen im Park kenne. Wenn der aus der Rinde tritt, ist das Endstadium der Erkrankung erreicht. Bald stirbt der Baum.