2024: AN DER BASSENA
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de
26.12.
Sophia (von Miles) schrieb mir als einzige auch an Heiligabend.
Am Vortag, kurz nach Mittag — der Zeitpunkt ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich kurz zuvor an der Frischfischtheke noch eine Gelbschwanzmakrele im Ganzen bewundert hatte und speziell diese Frischfischtheke öffnet regulär, auch am Tag vor Heiligabend, erst um 12 —, sprach mich an der Haltestelle ein Einzelner an. Es hatte soeben erst angefangen zu regnen. Der Mann war ungefähr doppelt so alt wie ich.
Als er noch Kind war, hätte er mit anderen auf der Kastanienallee Schneemänner gebaut. Dort sei er aufgewachsen: auf der Kastanienallee.
Ich erinnerte ihn daran, dass im Winter 2009 zum letzten Mal Schnee gefallen war in Berlin. Damals war es kalt geworden für mehrere Tage. Sogar über Silvester und Neujahr hinaus. Ich hatte aus dem Cookies zu Fuß nach Hause mich bewegen müssen. Vom Gehen konnte keine Rede sein, es fuhren nicht einmal mehr Taxis, derart glatt war es auf der Brücke über die Spree, die zugefroren war. Uber war noch nicht erfunden und «Die Vögel», rief ich, während ich als einziger die wartende Straßenbahn bestieg, «erforen mitten im Flug»
Er, ein Greis mit Zipfelmütze, einer wie ich, hatte da längst schon zu winken begonnen: «Frohes Fest!» «Frohes Fest».
19.12.
Mittags zum «Easy Lunch» in ein Lokal, das nach der romantisierenden Darstellung einer Prostituierten in einem Musical benannt wurde und real um die Ecke des widerlichsten Crackbabystrichs von ganz Berlin angesiedelt ist.
Die Kartoffelkroketten waren köstlich. Später mit Olivier durch den Park am Gleisdreieck nach Kreuzberg hinüber. In den vergangenen Jahren ist hier geradezu schlagartig ein komplett neues, ein abartig hässliches Stadtviertel entstanden. An entseelter Billigkeit durchaus vergleichbar mit dem Horrorkiez an der Lehrter Straße, wo Ijoma sich niedergelassen hat. Ich staunte nicht schlecht (und dachte an Barbara Morgenstern).
Schreibst Du denn noch immer dieses Blog, fragte Olivier. Abermals fing es zu nieseln an.
10.12.
Abends mit Max bei den Goldenen Zitronen. Manche von ihnen hatte ich schon gut dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen. Ted schaut noch besser aus als damals. Beneidenswert volles Haar. Silbrig auch. Nach wie vor ein cooler Typ. Hinreißend aber allein der Auftritt von Sophia Kennedy.
Anderntags ein Apéritiv mit dem Verleger in einer Weinbar, die ich schon beinahe vergessen hatte. Und nicht bloß ich: beinahe ebenso die sog. Zeit.
Avant la lettre: KI schreibt bald die Klappentexte. Aber hat sie das nicht schon immer?
Auf andere würde derartiges Feedback aus dem Buchhandel, wie er es auf sein ambitioniertestes Projekt derzeit kassieren soll, entmutigend wirken, doch lässt er sich das Verlegen nicht verbieten.
Am Ende werden bloß noch solche Menschen für einen übrig bleiben. Für andere hat man einfach keine Zeit.
Frage an Ted: Wie hieß denn jetzt die harfenspielende Person?
07.12.
Das Feuilleton hat mich gestern leider nicht überrascht, sondern hat in der gesamten Ausgabe noch nicht einmal einen telegrafisch codierten Hinweis auf den Geburtstag von Peter Handke aufglimmen lassen. Wie schwarz auf Schwarz gedruckt. «Dafür» eine seitenlange Analyse Angela Merkels. So ist die Zeit, so war heuer auch mein Nikolo.
Zurück in der Stadt ging ich abends sogleich, ohne Umschweife, in den Supermarkt «Punjab», weil es dort die größten, nein: die viel verzweigten Ingwerwurzeln hat. Auf manchen von denen könnte ich mir eine Überfahrt des Sees tatsächlich vorstellen.
Kaum aber hatte ich mir eine stattliche Alraune ausgewählt, entglitt mir diese auf dem Weg zur Kasse und zersprang auf dem frisch gewischten Supermarktfußboden des Punjab in sämtliche ihrer Glieder.
«Wie ein Leprakranker», entfuhr es mir. Zwar nicht laut, doch zumindest noch hörbar für die Kassiererin im tannegrünen Wickelmantel zum farblich abgestimmten Kopftuch.
Sie lachte. Um dann, mit Rufstimme, den übrigen Angestellten etwas hinter die bunt gefüllten Regalmauern mitzuteilen. Womöglich meine Bemerkung? Ich kannte ihre Sprache nicht. Bald lachten alle hinter mir.
Auch die Natur kennt Sollbruchstellen.