2025: GOSSIP GIRL
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem neuen Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Gossip Girl». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren 2021 bis 2024 einschließlich sind hier auf der Seite archiviert; die aus den früheren finden sich bei waahr.de
07.07.
Von der Saftbar Pluto aus sind es nur wenige Meter bis zur Normal Bar, Ecke Oderbergerstraße, die es nun nicht mehr gibt. In das Lokal wird die «Zacharias Tagesbar» einziehen nach kurzer Renovierung des Raumes. Hatte ich erst neulich noch behauptet, das die Münchnerisierung Berlins sich an der ersten Tagesbar würde ermessen lassen, so gibt die Zeit mir nun recht. Abermals, wie ich hinzufügen will. Stand heute nachmittag, 18:05 trete ich in meine Anna Maria von Schürmann-Ära ein.
06.07.
Abends wurde ich gefragt, warum ich dieses Buch geschrieben hätte «Warum hast Du dieses Buch geschrieben?» Eine Frage, auf die ich nicht nur keine Antwort weiß; vor allem eine, die ich nicht hören will. Der ich mich nicht ausgesetzt sehen will von jemandem, der mich besser kennen dürfte. Aber anscheinend nicht kennt. Auch die im Anschluss daran, die auf meine Weigerung, mich zu äußern, lancierten Fragen á la «Hat es denn etwas mit der Zeit zu tun», vergrößerten nur noch die Distanz, die sich jetzt aufgetan hatte zwischen uns. Aber wir saßen in einer Bar namens Pluto, nicht Mars. Und dennoch.
Morgens stand ich früh auf und fuhr bis zur Endhaltestelle der Straßenbahn. Sammelte von den wildwachsenden Kirschen so viele, wie nur möglich. An einigen hingen schon Ameisen wie Stoppeln eines Kirschbarts. Die Kirschen sind vergleichsweise winzig. Um ein knappes Pfund zu entsteinen braucht es (mich?) eine halbe Stunde. Ich entsteine halb nackt.
Warum ich das tue, ist mir egal. Es ist ein Trieb.
In der Bar schlürfte ich ein unkompliziert mundendes Getränk aus gekühltem Fruchtsaft, das laut Karte auf komplexe Weise hergestellt worden war. Es wurde mir in einem sehr kleinen Glas serviert. Auch davon, von solchen Bars, erzählen manche Romane.
03.07.
In der Zeitung heute eine jener seltenen Sternstunden, die ein Abonnement rechtfertigen können für mich: Der Dalai Lama fühlt wohl seine Zeit, wie es heißt: gekommen. In den Worten seiner Anhänger, den Lamas, sieht er sich bereit zur Inkarnation in einem Künftigen. Eventuell entscheidet er sich noch für die ebenfalls mögliche Variante der Emanation zu Lebzeiten. In den dieses Verfahren erklärenden Zeilen schwingt mit, dass so mancher diese seltene Form bevorzugte, da sie die Suche nach dem Kind, in dem sich der nächste Dalai Lama inkarniert finden ließe, erspart.
Diese Suche aber nach dem aktuell Verkörperten wird in diesem Text auf eine Weise beschrieben, für die Goethe noch das Wort artig hatte. Das Haus im Irgendwo Tibets, in dem das Kind zu finden sein würde, war einem ranghohen Lama im Traume erschienen. Auf der Wanderung des Suchtrupps über Land erkannte er es dann wieder. An der Knorrigkeit eines Wacholders, von dem das Dach des Heims beschattet wurde.
Im Inneren dann viele Kinder. Die Mönche wenden Listen an, ein Rätselspiel, um das Rechte unter ihnen herauszufinden. Beinahe unnötig, wie es sich bald herausstellen sollte. Das Goldene Kind spricht die Mönche von sich aus an und weiß den Namen ihres Klosters, den sie bis dato nicht in den Raum gestellt.
Thomas Pynchon hat mal irgendwo das Wunder definiert als eine Kollision zweier Sphären. Mich kann es nur wundern, wenn ich die Erzählung von dieser artigen Nachfolgerschaft, geleitet von Traumgeschehen, Eingebungen und Offenbarungen, lese. Selbst das Konzil mit seinem Kanonenofen ist davon noch mindestens eine Welt weit entfernt.
02.07.
Die Frau hinter der Theke der Tagesbar, wie sie in München heißen müsste, hatte sich, der sommerlichen Temperatur zum Trotz, eine Kufiya um den Hals gelegt. Ein schöner Hals. Sie selbst, die ganze Frau, auch rank und schön. Der Schal war nicht als modische Entscheidung zu verstehen. Der erste, nicht ich, der bei ihr durchs offene Fenster von der Straße aus eine Cola bestellte, wurde in ihre Gewissensentscheidung hineingezogen: zwar hätte es auch Coca-Cola in dem Laden hier, dessen Eigentümerin sie nicht war, doch hätte sie für sich entschieden, diese Brand nicht mehr zu verkaufen. Lediglich die deutsche Fritz-Cola ginge durch ihre Hände. Lege artis, auf Eis mit Zitronenschnitz.
«Auf US-Produkte zu verzichten: ganz schön schwer», sagte der Gast.
Ich saß derweil mit Hoosen draußen, am Rand der Szene, die sich durch besagtes Fenster hindurch zwischen drinnen und draußen über die Theke hinweg abgespielt hatte wie davon gerahmt. Wie so oft redeten wir über Kunst.
Bald kam dann noch Igor vorbei, tout en noir, sogar die Gläser seiner Sonnenbrille waren noir, von dem es hieß, er hätte sich die Rechte an der Domain Turbojude gekauft (für unter 50 Euro).
Ich bin immer wieder auch froh und mir dann auch dankbar, dass ich am Stadtrand wohne, wo ich, im Zwiegespräch mit den Mauerseglern, noch andere Gedanken entwickeln kann.
Aber klar, wie schrieb es der Meister in seinem Tagebuch einst so schön anlässlich eines Wasserfalls im tiefen Japan, von dem er sich den Kopf «freitrommeln» ließ: «Bald wieder hin.»
30.06.
Gibt ja einige, zumindest haben sie mir es berichtet, immer wieder, die glauben, dass es der hohe Anteil von Sand ist im Boden, auf dem Berlin erbaut wurde, der ihnen die Energie absaugt, um konzentriert arbeiten zu können. Und auch ich habe nun dort, wo, wie ich beim Kartoffelkauf feststellen konnte, die Erde schwer und dunkel, zugleich sandig ist, eine andere Form des Arbeitens für mich entdecken dürfen. Zu einem Teil wird das wohl an dem Boden liegen, auf dem das Kloster vor 900 Jahren erbaut ward; der schwere dunkle Sand spirituell aufgeladen; vor allem aber bringt die Alleinsamkeit den Durchbruch. Im Gewölbe, wo es Schokolade gab, hatten etliche vor mir Virginia Woolf beschwört.
Vor einem Laden am Gendarmenmarkt, der Planet Wein heißt, steht eine Frau mit Titus Cut, deren tübinger Zungenschlag sich schon beinahe abgeschliffen hat über die Jahre. Am Telefon versucht sie Gäste zur Teilnahme an ihrem Tasting zu motivieren «Und ja, genau, es gibt ein geiles Brot. Und einen geilen Butter…»
Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof fielen uns die grotesken Oberarme auf an einem, der den Friedhof als Abkürzung zu nutzen versteht auf seinem Heimweg vom Gym. Abermals dachte ich an jenen Vormittag, ca 1999 in der Kardinal-Faulhaber-Straße zu München, als eine komplette Lieferung der Kollektion zurückgeschickt werden musste, da sie, aufgrund eines Versehens, aus für den US-Markt geschneiderten Teilen bestanden hatte.
Niemand, zumindest keiner, den ich kannte, passte in die überdimensionierten Kleidungsstücke hinein.