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2022:
SCHÄUMENDE
TAGE

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de

31.12.

Heute ist der letzte Tag, um ein Telegramm in Empfang nehmen zu können. Ich habe eines bekommen (mir wurde eins geschickt), der Bote kommt dafür eigens ins Haus (eine Botin in meinem Fall). Der Inhalt: Eine Liebesbotschaft.

Für wie lange Zeit wurden die sogenannten Geschicke vor allem durch Telegramme beeinflusst und bestimmt — diese Zeit ist jetzt zuende gegangen, ohne dass es irgendjemand groß auffallen müsste.

Morgen geht eine andere weiter.

In Hanoi, wo ich bald eintreffen werde, hat es heute wie hier, vor Ort in Berlin: 15° Grad.

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29.12.

Ich habe mein Leben lang so wenig arbeitsteilig wie nur möglich gearbeitet. Die Jahre in Redaktionen lassen sich an der sprichwörtlichen Hand abzählen. Schon das Dreieck aus Autor, Lektor und Verleger empfinde ich als umständlich. Viele Köche et cetera

Die Antiquare antworten derzeit auffallend prompt — hungrig wie Fliegen. Ich habe den Eindruck: Ich bin ihr einziger Gast.

Die Erstausgabe der Niemandsbucht, die ich in den Ferien lesen will, kostet ein knappes Drittel ihrer Portokosten…

In den Leserbriefen der F.A.Z. war gestern ein Freak von irgend einem Lehrstuhl, der «dazu anregen» wollte, Deutsch als verbindliches Kriterium für die Einreise nach Deutschland einzuführen (oder zu verabschieden?), um den Wirkungskreis dieser Sprache zu vergrößern.

Wer jetzt noch keine Worte hat, findet keine mehr.

Ich lege Mandeln mit Sesam in Portwein ein — für ein nächstes Jahr.

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28.12.

Die Tage zwischen den Feiertagen und vor Silvester sind auf eine andere Weise besonders und mir lieb geworden. Und keiner, den ich kenne — außer Kristian Noel Pederson —, hat über diese Zeit je ein Lied gemacht.

Alle sind noch wie Kelche geöffnet von den Tagen zuvor. Als Sourdough Soldier fliegt man heran und stippt einfach ein.

So habe ich mit Alexander heute ein Mittagessen erlebt, bei dem wir uns beide, für uns selbst überraschenderweise, viel zu erzählen hatten. Viel mehr als sonst. Die Zeit verging auch anders, wie noch nie zuvor.

Wie heißt dieses spezielle Zwischenzeit zwischen den Feiertagen und Silvester denn bloß, was stellt sie mit uns an?

Bei Pederson heißt es, dass das neue Jahr vor uns liegt und das alte uns bald schon vergessen hat.

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27.12.

Vom Nordosten der Republik an ihr westliches Kap und durch das Tor zur Freiheit im Hinterland von Nordhausen, einst Dora Mittelbau: Die chinesische koreanische Sänfte, ein Kia Ceed (traumhaftes Gefährt, der wahre Jadehase) glitt beinahe schwerelos über das Graue Band — Weihnachten, ohnehin eher Gefühl als Zeit; ein ZeitRaum, in dem wir uns mit unseren Doppelgängern trafen…

Als wir noch Enkel waren, verließ man den Raum, wenn die Rede auf Hitler kam, auf das Dritte Reich. Davon ließe sich mittlerweile gefahrlos reden, sogar an Weihnachten. Die Deutschen, so scheint es, sind «austherapiert». Probleme gibt es jetzt beim Reden über die Gegenwart.

Am Nachmittag des zweiten Feiertages, gestern, zeigten sich die Autobahnen leer. Aber nicht wie verwaist, sondern einladend. Majestätisch drehten sich die Propeller der Windräder vor grauen Flözen, die bis dicht über den Horizont herabgesunken waren, satt und müde. Und dazwischen, zwischen Himmel und Erde umspannte ein hinterleuchtetes Band aus Glas das allumfassende Rund.

Als wir noch Enkel waren, ging man in den Gottesdienst und versuchte sich dort in einer Welt aufzuhalten, die mit dem Alltäglichen nichts zu tun haben wollte — sie war erhaben und die reine Form an sich. Mittlerweile ist es umgekehrt: Der Gottesdienst ist vor allem profan. An Heiligabend dachte ich abermals darüber nach, ob ich nicht doch noch konvertieren sollte.

Oder doch eher das Spiel auf der Trompete erlernen?

Beides?

Kurz vor Potsdam verdoppelt sich die Anzahl der Spuren und man findet sich eingeleitet in den breiten Fluß aus roten Rücklichtern. Kiefernwälder — man vergisst es noch jedes Mal, sobald Berlin endlich hinter einem liegt.

Die Schlange vor Mustafas Gemüsekebap, gegen 16 Uhr 30, war so lange wie sonst auch immer. Als wärst Du nie weggewesen! Es nieselte leicht.

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22.12.

Ich liebe diese Zeit. Laut Andy Williams «the most wonderful of the year».

Ich liebe die Höflichkeit, die Freundlichkeit und die Ausgelassenheit, die es bloß derzeit hier gibt.

Ich liebe die Weihnachtsmusik, die jetzt überall spielt; ich liebe, wie sie gemacht wurde. Neulich hörte ich mit Sebastian über Bluetooth sämtliche Versionen von Jingle Bells Rock vor dem Küchenradio — und keine einzige war wirklich schlecht.

Weihnachten ist vor allem ein konfliktfreies Thema, selbst Food oder Das Wetter erscheinen mittlerweile politisch eingetrübt. Mal schauen, wie lange Weihnachten sich noch im Neutralen halten kann.

Heute zeigte mir ein holländischer Musikproduzent (wir sprachen über den Genius von Last Christmas), dass George Michael «you gave it away» eigentümlich betont hatte — mehr in Richtung gäw, denn gayve. Ein Menektekel?

Schon die ersten Chuck-Berry-haften Bendings im Jingle Bells Rock elektrisieren!

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