2022:
SCHÄUMENDE
TAGE
Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «Schäumende Tage». Tagebucheinträge aus den vorangegangenen Jahren sind archiviert bei waahr.de
19.12.
Seit seinem Zusammenbruch soll sich Haftbefehl nach Rutesheim zurückgezogen haben — unweit von dem Dorf, aus dem ich komme.
Anderntags kam es dann dort, in Rutesheim, an der Metzgerstheke im Edeka, zu einem veritablen Schisma, bloß, weil ich mich über die Beschilderung der Saitenwürstle lustig gemacht hatte.
«Wiener/ Saiten» stand dort seit neuestem. Früher undenkbar, rief ich aus.
Was hat er gerade über die Saiten erzählt, fragte daraufhin eine Frau aus der Warteschlange in meine Richtung (freilich ohne sich dezidiert nach mir umzudrehen).
Ich erklärte mich, woraufhin mir eine andere «auf den Kopf zu» sagen wollte: «Sie sind aber auch nicht von hier!»
Hier widersprach ich vermutlich etwas mit etwas mehr Nachdruck als geboten. Behauptete die Dame doch tatsächlich, bei Saiten und Wiener handelte es sich um ein und das selbe Würstle!
Auf der Heimfahrt, die durch den zauberhaft mit Schnee verzuckerten Mischwald führte, der meine alte Heimat von der neuen Heimat Haftbefehls trennt, wurde mir weh ums Gemüt: Ich hatte wohl gar keine Heimat mehr; war wie diese Türken geworden, die man in der Türkei, aus der sie einst in die BRD gekommen waren, «Deutschländer» nannte. Weil sie weder recht Deutsch, noch aber noch Türkisch sprachen.
Und ich: Ein Saitenwiener vor dem Herrn.
17.12.
Im Frühzug nach Stuttgart erfahre ich von der Katastrophe des geplatzten Aquariums im Foyer des Radisson: das «9-11 der Meeresbewohner» wie Friederike es in Worte fasst.
1500 Fische mussten sterben. In einer Perversion der Geburt mit dem Platzen ihrer stillen Welt aus dem Leben gerissen und hinaus in eine dunkle, unbegreifliche, lebensfeindliche Welt gespült und geschleudert, deren Atmosphäre in wenigen Minuten abtötend wirkt. Dragged across concrete.
Man könnte das als einen Kolleteralschaden bezeichnen — aber von was eigentlich? Warum waren die Fische dort in diesem durchsichtigen Turm ausgestellt worden?
An dieses Hotel habe ich ohnehin keine guten Erinnerungen. Als ich dort kurz nach Eröffnung eine Nacht verbringen musste, brachte ich den Eincheck-Vorgang so radch wie möglich hinter mich, weil ich den blau leuchtenden Zylinder bedrohlich fand. Ein Taucher schwamm dort hinter der Scheibe mit den Fischen, um etwas in Ordnung zu bringen, das ein menschliches Auge stören könnte.
Bei —8° Grad Celsius und geschlossener Schneedecke zeigt sich die Welt hier am anderen Ende des lebensfeindlichen Spektrums: jeder Grashalm ist mit Büscheln langer Eiskristalle überzogen, in denen das Licht der Sonne sich farbig bricht. Das schaut flauschig aus, dahinter lockt die weiche, glitzernde Weite. Vom Speierlingsbaum, von dessen Zweigen noch die hartgefrorenen Früchte hängen, schweben blitzende Partikel wie gläserner Staub durch die Luft. Frost wirkt aseptisch. Im Gegenlicht scheinen die Spinnennetze wie aus dicker eisiger Wolle gewebt.
16.12.
Dass es bei Minusgraden zugleich sehr viel leiser zugeht in der Welt erkläre ich mir insgeheim damit, dass die Moleküle sich jetzt langsamer bewegen; sie dämpfen quasi den Schall. Was freilich nicht stimmt.
Ist etwas laut, fällt es nun besonders auf — sozusagen «ins Ohr».
An der Haltestelle fuhr gestern eine massige Frau ein Kind im Wagen vor. Das Kibd war dafür, um herumkutschiert zu werden, eigentlich längst zu groß, aber für die Frau, die ja vielleicht auch seine Mutter war, schien das bequemer im Handling des Kindes, zumal sie noch einige Tragetaschen gefüllt mit Leergut zu transportieren hatte.
Das Kind schrie. Es weinte dabei, aber mit den Tränen schrie es auch. Es war ein Schreiweinen in einer fremden Sprache, die Mutter sprach eine, die für mich russisch klang, vielleicht war es sogar Ukrainisch, auf jeden Fall eine slawische Sprache. Beruhigen ließ das Kind sich damit nicht.
Das Kind brüllte. Die Mutter sprach, dann schaute sie in meine Richtung und sagte «Chips.» Dann noch einmal «Chips!» Und daraufhin, ganz offensichtlich war dies eines der wenigen Worte des Deutschen, das sie kannte (oder des Englischen, je, nachdem): «Chipschipschips!»
Das Kind, soviel hatte ich aus der Kombination von unartikuliertem Schreiweinen und dem geheimen Wort verstanden, wollte Chips. In Wahrheit wollte es natürlich trost. Vielleicht war ihm kalt in seinem Wagen. Aber weil die Mutter es früh schon mit Chips getröstet hatte, konnte seiner Mutter den Wunsch nach Trost nicht anders verständlich machen als mit seinem Schrei nach Chips.
Die Mutter hatte aktuell aber andere Sorgen und keine Chips mitgebracht. Trost schon, aber der war ja offenbar nicht gefragt. Dafür Chips. Und so redeten und schrien sie aneinander vorbei.
Morgen sollte es noch kälter werden.
15.12.
Gottlob musste nicht ein jeder die Zeit der Pandemie in Ohnmacht erleben. Gestern abend hatte ich Gelegenheit mit einem Cellisten zu sprechen, vor allem ihm zuzuhören, der in diesen Jahren, in denen er weder reisen noch auftreten konnte wie gewohnt, von einem Meister gelernt hatte, eine Geige zu bauen.
Jetzt kann er unerschöpflich und wunderbar von seinem neuen Wissen erzählen. Vor allem von den Bäumen und deren Hölzern, die es für den Bau exzellenter Streichinstrumente braucht.
«Warum eine Geige und kein Cello?»
«Ein Cello braucht eine Menge Holz.»
Holz, dass, zu Stradivaris Zeiten, idealerweise von Ahornbäumen stammte, die man bei Vollmond auf dem Gebiet des heutigen Bosniens geschlagen hatte. Und die in Form der ganzen Stämme durchwegs auf dem Wasserwege bis nach Italien geflößt worden waren — wie Stiele von Blumen in einer Vase: permanent feucht unter Luftabschluss gehalten, damit die in ihnen kapillar geführten Säfte nicht verdunsten konnten.
Wichtig für den Klang eines Streichinstruments sind nicht allein das Alter der Bäume und ihr Wuchsort, die Art des Gehölzes, sondern mit welchem Abstand die Jahresringe aneinander liegen in seinem Stamm. «Ringe» — so soll dieses Tagebuch im kommenden Jahr dann heißen (immer kommt die Idee dazu in den letzten noch verbleibenden Tagen, bevor das Jahr sich gen Ende neigt wie ein gefällter Baum).
Das Ganze fand statt, es trug sich zu in einem kleinen Restaurant mit luxemburgerischer Küche, das ich von Spaziergängen schon seit vielen Jahren kenne, aber noch nie betreten hatte. Wohl aus einem Respekt vor Luxemburg, wo ich nie war, und das mir, vielleicht auch deswegen, exotisch vorkommen will; exotischer jedenfalls als beispielsweise Korea, von dessen Landesküche ich bis gestern sehr viel mehr zu wissen glaubte.
13.12.
Seltsam, dass vom Dreizehnten, selbst wenn er zudem auf einen Freitag fiele, im Dezember keine Bedrophlichkeit ausgehen will — Dezember der Bergende. Das Jahresende wie in einem Strumpf, der in den Innenraum der Behaglichkeit mündet.
Sonntags ging es hinaus nach Entenwerder. Die Luft war klar und kalt, pazifisch blau. Auf der Halbinsel im Parfait der Elbe saßen die Leute auf der Terrasse. Die Wintersonne wärmt zwar kaum, aber sie strahlt.
Die umgebende Landschaft aus abgebrochenen Industrieunternehmen und scheinbar wahllos errichteten Hotels der unteren Mittelklasse erinnerte Sebastian an Kasachstan (er war schon einmal dort, auch länger). Zwischen Autobahnen, eisernen Brücken aus verschiedenen Epochen und einem überdimensionierten U-Bahnhof schauten wir ein erstaunlich bescheidenes Loch, aus dem bald schon der sogenannte Elbtower wachsen soll: ein sehr hohes Hochhaus, dessen zweifelhafte Genehmigungsgeschichte, die freilich vor allem eine der Finanzierung ist, auf den ehemaligen Bürgermeister von Hamburg zurückgeht.
Außer dem Loch ist noch nichts zu sehen außer drei roten Kränen. Nicht an jedem Tag wird der Blick aus den Zimmern und Suiten dann derart weit bis nach Niedersachsen reichen wie an jenem Sonntag, dem 11. Dezember 2022.
Abends in der «Brücke», die glücklicherweise wiedereröffnet werden konnte. Früh zu Bett.