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2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

10.05.

Bad Director erzählt, zeigt Weltentfremdung in einem späten Stadium. Ungefähr dort, wo der Übersetzungsmönch in dem Text von Max verstummt war. Roehler inszeniert ihn, den Regiemönch, vielleicht also sich selbst als den aus dem lichten Ort seiner Zelle ins finstere Weltgebälk Gestossenen;

nicht Gefallenen, noch Taumelnden. Als einen den Halt Suchenden, sich dabei die ekelhaft und fremd gewordene Welt mit Grimassen vom Leib Haltenden. Die Augen quellen hervor um Fluchttunnel zu bohren für den Blick. Man kennt es von Katzen.

Abends wieder im Wissenschaftskolleg. Dieses Mal auf der Terrasse und später auf einem Balkon im Haus nebendran. Gespräche über Gingkobäume, Spreerundfahrten, Umhängetaschen und Demokratie.

Auch Max unter den Gästen. Aber irgendwie kamen wir nicht mehr dazu.

Im Bett noch eine halbe Seite Léon Bloy über die Frömmigkeit…

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09.05.

Bad Director natürlich im Babylon. Ich fühlte mich etwas erschlagen von der Masse an Premierenbesuchern, stellte dann drinnen im Saal fest, dass es sich um ein riesiges Kino handelt, in dem ich noch nie gewesen war. Immer bloß daran vorbei gegangen. Aus dem kleinen Plattenladen, in dem ich einst gerne eingekauft hatte, zu Plattenkaufzeiten, ist mittlerweile ein Café geworden, das eine komplett verspiegelte Decke hat — very instagramable.

Einen Film mit so vielen anderen anzuschauen, hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Viel gelacht — von mir aus, aber immer wieder auch angesteckt von den anderen um mich herum. Oliver Masucci, den ich seit seinem Auftritt als Gajus Sexus in Hannover sehr schätze, spielt Oskar Roehler derart grotesk, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie Roehler es fertig bringen konnte, dabei Regie führen. Eine Art Our of body experience. Totale Abstraktion. Ungefähr wie dieser Ketamin-Rausch, von dem mir einmal jemand erzählt hatte, als er sich, an der Bar sitzend, selbst auf der Tanzfläche entdeckte und dann mühelos von dort aus widerum sich selbst an der Bar sitzend sah.

Ob ich den Film auch derart komische gefunden hätte, wenn ich ihn allein angeschaut hätte (was man ja früher manchmal hatte, bei Constantine-Vorführungen, da saß man in München allein vor der Leinwand in einem sehr komfortablen Kino, mit Sound und Lights out, aber halt allein).

Dreßler und Wiedemann berichten in «Kunst des Zuschauens» von einem Experiment mit der Vorführung einer lustigen Theaterszene in unterschiedlich gefüllten Zuschauerräumen: «Die 50 Leute im Parkett brachten nicht jene Massenkraft zustande, die Wirkungen des Theaters als gesteigertes Selbstbefinden des Zuschauers in Kooperation erst entstehen lässt. Der leere Zuschauerraum bewirkt also auch eine leere Bühne.»

Kann man Kino und Theater vergleichen? Ist Kino wie Fernsehen im Theater?

Gut fand ich auch Roehlers kurze Ansprache vor dem Lights out: «Der Film ist länger als der Trailer. Ich hoffe, dass einige von Euch die intellektuelle Kraft aufbringen, das durchzustehen.»

Kann man als Publikumsbeschimpfung isoliert betrachten und dann wäre es für sich genommen schon löblich, diese schöne Form mit einem Revival zu bedenken. Darüberhinaus sind Reels, TikToks und Clips auf Youtube ja wie Fernsehen im Naturtheater. Loads to unpack here. Und die Suhrkamp-Lektorinnen-Fantasie war für die Ewigkeit. Zumindest für meine. Geil.

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07.05.

Ein in sämtlichen Tönen von Eisen, Make-Up des Todes selbst, lastete vom Himmel herab über dem Tag. Warum mir aber Blau als so viel hoffnungsversprechender erscheint: Ich weiß es nicht. Erfahrung, ein aquired taste for the sky?

Als ich zum ersten Mal nach Asien kam, in die subtropische Sphäre hat mich vor allem die Hinmelsfärbung dort überrascht. Ich war in Anbetracht der prophezeiten Temperaturen von einem gleißenden Blau ausgegangen. Doch herrscht in den Subtropen Grau vor.

Alexander Frater, den ich leider nie traf, der dort aufgewachsen ist, erinnert sich an Phil-Spector-hafte Monsunregenwände über Bangkok, in denen die Vögel während ihres Durchfliegens ertrunken sind.

Den gesamten Nachmittag dann mit Christian im Telegraphenamt verbracht. Seltsame Einigkeit.

On verra.

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06.05.

Den Tag gestern mit einem Strauß Pfingstrosen verbracht. In, wie es heißt: stummer Zweisprache (es lief Foals, «Kilode» im Remix von Carl Craig): Bekanntlich kann man einem Mann ein Foto eines Straußes schicken, und er wird es betrachten. Aber wenn man einem Mann einen veritablen Strauß schickt, hat er das ganze Leben dieses Straußes lang zu tun. Schauenderweise.

Wenn wir eine Tochter hätten, hätte ich mich für den Vornamen Peonia stark gemacht. Es gibt, außer dem Gänseblümchen vielleicht, keine verbrieftere Blüte ohne Kitsch. Tulpen sind ja eher Schnittlauchdolden von ihrem Charakter her.

Im Betrachten der Pfingsrosen über den Lauf des Tages — wie sie, jede für sich und jeweils in andere Farbtöne verblassten wie altersmüde Röcke im Ballett (man wäscht sie nie, der Tüll ist zu empfindlich, sie werden mit Wodka besprüht, um die Bakterien abzutöten), wie Tiffy auch, der Vogel in der Sesamstraße, fühlte ich mich in bester Gesellschaft. Eine beinahe psychedelische Erfahrung. Soll ja Leute geben, die auf Pilzen in einem Blumenstrauß Gottes Hand erkannt haben und zurückfuhren, vade retro!, wie von ihr am Ohrwatschel gezupft. Für mich war es der Strauß selbst, die Farbtöne und Wuchsformen im Spiel des Sonnenlichts, die als Psychedelikum wirkten.

Zwischendurch freilich Anrufe und Nachrichten. Man ist ja mittlerweile nirgendwo mehr allein.

Und ich dachte an mein afrikanisches Jahr. Ohne Telefon und alles. Als ich oft tagelang mit keinem Menschen gesprochen hatte, weil ich von niemandem dort etwas erwarten konnte. Als ich oft tagelang das Hotel nicht verließ. Solch eine Alleinsamkeit ist heute «aus technischen Gründen» unmöglich gemacht. Und ich dachte an den Text von Max in den Geisteswissenschaften über einen Übersetzer Im Mittelalter, der, wie es von heute aus scheint, mit einem Mal verstummte. Und Max stellt fest: Er hatte sich einfach so weit in die Weltfremdheit, in die Blüte der Peonia vorgetastet, dass ihm sogar das Schreiben fremd geworden war.

Gestern rief also Beda an und erzählte mir von einem Tag, an dem er deutsches Fernsehen angeschaut hatte. Und wie das für ihn war. Und ich hatte einen kl. Austausch mit Oskar über das Porträt, das Peter Körte verfasst hatte wegen «Bad Director». Morgen Premiere, ich freue mich schon!

Aber die Erinnerung an die Zeit ohne Andere holte mich am Nachmittag noch einmal ein. Da rieselten aus den dunkleren Blüten schon Petals auf den Boden, der jetzt lange Schatten hatte. Und ich fühlte etwas wie Demut, aber es war Demut in disguise. Nämlich Dankbarkeit. Dafür, dass ich das erleben durfte. Und im Folgenden fertigte ich eine längere Liste an mit anderen Besonderheiten meines Lebenslaufs, für die ich mittlerweile dankbar bin.

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02.05.

Ein Starenhahn ist ungefähr so lang wie meine Hand und wiegt um die 80 Gramm. Seit Wochen streicht hier einer um das Haus, diverse Plätze ausprobierend, wo er sich niederlassen könnte: Soundcheck.

Letztlich hat er sich für die Krone eines Baumes vor dem Haus schräg gegenüber entschieden, der kürzlich erst von den Baumpflegern bis auf das Skelett entkleidet wurde von seinen grünenden Zweigen. Auf den schwärzesten Punkten dieses antennenhaft in den Himmel ragenden Gehölzes baut sich jetzt unser Star auf, im Prachtkleid selbstverständlich, um zu senden.

In eigener Sache.

Wie ein «detuned radio». Mal brummt er wie ein Kühlschrank, dann kommt kurz Polizeifunk durch. Gelächter im Dunkeln am hellichten Tag. Cat Calling — von einem Vogel.

Diese Tiere gab es längst. Im Starenauge gibt einen Rezeptor, der ihn die Reifegrade seiner bevorzugten Früchte erkennen lässt. Womöglich hat sich Julia Klöckner, die Winzerstochter, dort die Inspiration für ihre «Lebensmittelampel» geholt?

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