Zum Inhalt springen

2024: AN DER BASSENA

Seit dem 1. Januar 2016 führe ich ein öffentliches Tagebuch, das in jedem Jahr unter einem wechselnden Titel erscheint. In diesem Jahr lautet das Motto «An der Bassena». Tagebucheinträge aus den Jahren 2021, 2022 und aus dem vergangenen 2023 sind hier auf der Seite archiviert; die aus allen vorangegangenen finden sich bei waahr.de

31.12.

Um die Mittagszeit zeigte das Jahr, das von sich selbst nichts weiß, seine sonnige Seite. Schöne Baumschatten an der Fassade des Nachbargebäudes, das so leer zu stehen schien wie der Baum selbst, der auf ihm abgebildet war in Schattenfarben auf Fassadengelb. Noch vor meiner kindlich gefärbten Faszination mit Amöben rangiert bis heute die mit der Wirkung einer Neutronenbombe; vermutlich aus einer ähnlich weit zurückliegenden Zeit.

Am Vortag noch ein Ausflug nach Storkow. Man will bei den hässlichsten Straßen Berlins ja unbedingt herausfinden, es schauen, nach welcher Ortschaft in Brandenburg sie benannt wurden. Also ich will das.

In Storkow dann ein Mann, der eine Schubkarre, überhäuft mit Altglas, über die heftig befahrene Bundesstraße schob. Wahrscheinlich heimwärts. Ein Schatz.

Auf dem Marktplatz war eine handgeschnitzte Bank aus Fichtenholz aufgestellt. Die Volksbank, stand in ihre Rückenlehne eingraviert. Neben dem Schriftzug war eine kleine Tafel aus Messing an das Holz geschraubt worden, die das Zitat «Demokratie braucht Widerstand» zeigt. Zitatgeber in dem Fall offenbar Jochen Buchsteiner, ein Kolumnist der F.A.S.

Wie aber genau das Volk von Storkow an das Zitat gelangt war, beziehungsweise wie der Abstimmungsprozess zugunsten dieses doch etwas generisch anmutenden Zitats abgelaufen war, davon gab die Volksbank nichts preis.

Wie in Brandenburg usus war wieder weit und breit keine Menschenseele zu sehen, geschweige denn greifbar.

Später, da schon wieder am Alexanderplatz, Hotdogs bei Five Guys. Im Lärm- und Spaßbad. In der Fülle.

Fanta mit Kirschflavour und einem Spritzer Zitrone (Rezept von A). It was a very good year.

Weiterlesen

28.12.

In meinen späten Kindertagen las ich gern in einem Buch, dessen Handlung in einem anderen Land, in einem Haus am Meer erzählt wurde. Zwei Jungen lebten dort mit ihren Eltern, die ich als Leser so gut wie nie zu Gesicht bekam. Der Vater war ein Ärchäologe. Seine Ausgrabung war der Grund, weshalb die Familie überhaupt dorthin ans Meer gezogen war.

Mir hat an dieser Lektüre vor allem gefallen, dass die Söhne sich selbst überlassen leben konnten. Mit dem Haus als Stiftung. Eigenverantwortlich, doch beschützt von den Erwachsenen, die sich im Hintergrund halten wollten. Was ich als sehr angenehm empfand. Auch weil mein eigenes Leben zu jener Zeit genau andersherum geordnet war.

Der Höhepunkt des Textes, als seine zentrale Szene empfand die Begebenheit, da der jüngere von beiden eine Meeresschildkröte findet, die am Strand angespült worden war. Im Morgengrauen. Wie Goethe verspürt er den natürlichen Drang, das Tier zu sezieren. Interessant dabei vor allem die Frage, wie die aus dem Schildkrötenpanzer herausragenden Gliedmaßen, es sind fünf mit dem Hals, im Innenraum miteinander verbunden sind.

Die Zerlegung bringt das an den Tag. Doch reicht dieser auf der Terrasse des Elternhauses durchgeführte Vorgang und das Ergebnis alleine nicht zur zentralen Szene eines Buches. Es gehört dazu noch der ältere Bruder, der im schattigen Inneren des Hauses auf dem Sofa lagert, um sich von seiner Amöbenruhr zu erholen. Geschwächt wie er beschrieben wird, ist mir vor allem seine wiederholt hervorgestossene Beschwerde über den «pestillenzartigen Gestank» aus den Eingeweiden der Schildkröte in Erinnerung geblieben.

Es war für mich auch diesbezüglich interessant zu erfahren, dass es sich bei der mysteriösen Erkrankung, an der ich in den vergangenen vier Wochen wahrlich gelitten habe, um eben diese in dem Buch erwähnte Amöbenruhr gehandelt hatte. Mittlerweile in unseren Breiten recht rar geworden, das gebe ich zu. Dennoch mit traditionellen Labortests durchaus feststellbar.

Dass man hier im Osten aber vor allem auf Ärzte trifft, die mit dem reinen Mittel der Inaugenscheinnahme ihre Diagnostik voranbringen, wundert mich nicht. Ich habe bei meinen Fahrten durch Brandenburg auch reihenweise Busfahrer kennengelernt, die einen QR-Code mittlerweile mit dem Blick scannen können, da ihnen die zum Einlesen erforderlichen Geräte nicht zur Verfügung gestellt wurden.

Abermals einfach bloß happy, noch (oder wieder?) am Leben zu sein.

Weiterlesen

26.12.

Sophia (von Miles) schrieb mir als einzige auch an Heiligabend.

Am Vortag, kurz nach Mittag — der Zeitpunkt ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich kurz zuvor an der Frischfischtheke noch eine Gelbschwanzmakrele im Ganzen bewundert hatte und speziell diese Frischfischtheke öffnet regulär, auch am Tag vor Heiligabend, erst um 12 —, sprach mich an der Haltestelle ein Einzelner an. Es hatte soeben erst angefangen zu regnen. Der Mann war ungefähr doppelt so alt wie ich.

Als er noch Kind war, hätte er mit anderen auf der Kastanienallee Schneemänner gebaut. Dort sei er aufgewachsen: auf der Kastanienallee.

Ich erinnerte ihn daran, dass im Winter 2009 zum letzten Mal Schnee gefallen war in Berlin. Damals war es kalt geworden für mehrere Tage. Sogar über Silvester und Neujahr hinaus. Ich hatte aus dem Cookies zu Fuß nach Hause mich bewegen müssen. Vom Gehen konnte keine Rede sein, es fuhren nicht einmal mehr Taxis, derart glatt war es auf der Brücke über die Spree, die zugefroren war. Uber war noch nicht erfunden und «Die Vögel», rief ich, während ich als einziger die wartende Straßenbahn bestieg, «erforen mitten im Flug»

Er, ein Greis mit Zipfelmütze, einer wie ich, hatte da längst schon zu winken begonnen: «Frohes Fest!» «Frohes Fest».

Weiterlesen

22.12.

Es war in dem Zusammenhang für mich interessant zu erfahren, dass Nick Cave in seinem Blog erklärt hat, dass auch bei ihm daheim an Heiligabend das Album von Vince Guaraldi und den Peanuts aufgelegt wird. Womöglich ist es halt die beste Weihnachtsmusikplatte aller Zeit.

Weiterlesen

19.12.

Mittags zum «Easy Lunch» in ein Lokal, das nach der romantisierenden Darstellung einer Prostituierten in einem Musical benannt wurde und real um die Ecke des widerlichsten Crackbabystrichs von ganz Berlin angesiedelt ist.

Die Kartoffelkroketten waren köstlich. Später mit Olivier durch den Park am Gleisdreieck nach Kreuzberg hinüber. In den vergangenen Jahren ist hier geradezu schlagartig ein komplett neues, ein abartig hässliches Stadtviertel entstanden. An entseelter Billigkeit durchaus vergleichbar mit dem Horrorkiez an der Lehrter Straße, wo Ijoma sich niedergelassen hat. Ich staunte nicht schlecht (und dachte an Barbara Morgenstern).

Schreibst Du denn noch immer dieses Blog, fragte Olivier. Abermals fing es zu nieseln an.

Weiterlesen