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9.4.

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Jean Cocteau hat geschrieben, dass es darauf ankommen werde, wie ein Mensch gelebt zu haben, aber als ein Künstler in Erinnerung zu bleiben.

Anders als bei manchen Bonmots wirkt bei seinem schon entscheidend, dass man sich zu vergegenwärtigen versucht, in welcher Situation, rein zeitlich, er auf diesen Gedanken gekommen sein mag. Beziehungsweise: Wie sah das Leben eines Künstlers, der allermeisten wohl zu diesem Zeitpunkt aus. Um ein besonders krasses Beispiel anzuführen: Cocteau, dessen Lebensart sich ja noch heute aus seinen wie aus einem einzigen durchgezogenen Strich, wie aus einem Farbfaden drapierten Zeichnungen ableiten ließe, hatte wohl einen Kollegen wie Chaim Soutine im Auge, dem er ein menschenwürdiges Leben gewünscht hätte. Eines mit erhobenem Kopf; eines, zu dessen Anmut die vor Saftigkeit strotzenden Gemälde in einem staunenswert spannungevollen Gegensatz bestünden.

Heute muss hier oder in Frankreich kein Künstler mehr von Abfällen leben, mit gesenktem Kopf, ohne Dach, den Launen des Wetters schutzlos ausgeliefert wie ein Schwein.

Sonnenschein, violette Stürme und strahlender Sonnenschein wechselten heute einander ab in rascher Folge. Zwischendrin machten wir eine Ausfahrt nach dem nahen Gerswalde, das bald hinter Pinnow liegt. Der Ort war in den neunziger Jahren zu einem der zahlreichen Inbegriffe des schrecklichen Ostens geworden, nachdem dort junge Ureinwohner einen der ihren, der den kuriosen Vornamen Marinus hatte, in einem Schweinetrog zu Tode gefoltert hatten, weil er nicht zugegeben wollte, dass er «Jude» war. Was er im Übrigen auch gar nicht zugeben konnte, da Marinus nicht jüdisch gelebt hatte. Mittlerweile ist sprichwörtliches Gras über die Sache gewachsen. Seitdem Lola Randl den Schlüsselroman «Der Große Garten» veröffentlicht hat, ist Gerswalde sogar zu so etwas wie einem Nukleus des Clay-Cube-Movements erklärt.

Die freundliche Übernahme des Schandfleckens durch wohlgesinnte Hauptstädter ist freilich noch längst nicht abgeschlossen. Aber es sind schon einige Häuser, an denen die typischen Fensterrahmenfarben, die puristische Vorgartengestaltung, die Typografie an den Klingelschildern und Briefkästen vom Kommenden der künftigen Dorfgemeinschaft künden.

Der See, um den Gerswalde angesiedelt wurde ist, das las ich auf einem Schild an der aus grobem Fels gefügten Fassade des Gemischtwarenladens, nicht geeignet zum Baden. Im Gemischtwarenladen selbst verkündete einer der in der Warteschlange Stehenden seltsam anlasslos, er sei «rechtsradikal eingestellt».

Man wird trotzdem das Wasser im See zu giftig ist, auch noch einmal im Sommer wiederkehren müssen, wenn auch der Große Garten geöffnet hat, um das ganze Bild in sich aufnehmen zu können.

Einstweilen gab es ja bloß die Häuser und Gärten. Und die wirkten, wie schon in Pinnow, nicht gerade uniform, aber doch gleichförmig auf mich. Das hat mich erinnert an eine Zeit zu Anfang des neuen Jahrhunderts, als es in den Wohnungen von Kunstsammlern immer irgendwo diesen einen Teppich gab — er war nicht von Ikea; und trotzdem lag in sehr vielen Wohnungen immer ein Exemplar seiner Art: aus einer Wolle in abgetöntem Weiß mit einem Rautenmuster aus dunklen, graphitfarbenen Linien. Die Häuser hier in der Uckermark sehen, wenn die wohlgesinnmten Hauptstädter sie modernisiert haben, einander ähnlich wie damals diese Teppiche einander ähnlich gesehen haben.

Ob das ein Shibboleth ist, ein Code, eine Chiffre oder bloß Geschmack: ich weiß es nicht. Aber einst wird es heißen, dass dort Menschen gewohnt haben.

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