21.01.
Freilich wäre es interessant gewesen zu erfahren, aus welchem Grund, beziehungsweise ab wann ein solches Bauwerk als abgelebt beschlossen wird; beziehungsweise ob das überhaupt beschlossen wird oder ob es sich ergibt. Einfach so — oder halt aus klandestinen Abläufen des Tempelgeschehens heraus. Die Klandestinizität hier übrigens wie auch bei vielen Abläufen im Alltagsgeschehen vor mir durch die abschottend wirkende Sprache begründet, deren Schriftbild mich mit den vielen Ösen mal an ein Scherengitter, dann wieder an die Mechanik hinter den Figuren des Stabpuppentheaters erinnert.
Doch es sind nicht allein die fremdartigen Zeichen und Laute, die ich nicht gelernt habe «zu beherrschen». Die Ordnung der Abläufe, die damit beschrieben würden, bleiben dem Zugriff des Übersetzers verborgen (der in meiner Uhr eingebaute verrichtet für die basalen Bedürfnisse hinreichende Arbeit; vor allem sind die Leute hier daran gewohnt über das Medium in Gestalt einer Uhr mit einer vor ihr stehenden Person zu kommunizieren. It doesn’t raise a brow).
Der Besuch des Museum for Insects and Natural Wonders entpuppt sich im dieser fremdartigen Logik quasi zwangsläufig zu einen Museum einer anderen Thematik. Beim Verlassen des Museums bleibt man, anders als bei den uns vertrauten Museen europäischer Tradition, still. Das rasche Umschalten auf die leuchtende Lebendigkeit der Szenerie vor der Museumstüre gelingt nicht. Das Leben selbst, so ist das Gefühl: war dort drinnen aufbewahrt und wartet immer noch.
Das also gibt es hier zu sehen: Im Erdgeschoss findet sich der Besuchende zunächst von einem Sammelsurium aus diversen Darstellungen irgendwelcher Insekten umgeben. Teils in Diaramen, teils mitten im Raum, dort an Wänden oder auch auf Teilen von Bäumen montiert sind diese Insekten aber nur in Ausnahmefällen der Natur entnommen, sondern Nachbildungen aus Metall und Holz. Die Zusammenstellung dieser Modelle von Schaben, Wanzen, Hundert- und Tausenfüsslern, sowie Motten und Schmetterlingen samt deren Larven und Raupen, hat ebenso wenig mit einem in der Wirklichkeit möglichen Ökosystem gemein. Erlaubt ist hier, wie es heißt: was gefällt. Aber die Ästhetik des Gefallens wirkt fremdartig. Exotisch allenfalls in einem noch nicht im europäischen Verständnis eingebürgerten Sinn.
Auch fehlen jegliche Empfehlungen oder Vorgaben für die Customer Journey durch dieses bestürzende Reich des Wissens. Unwillkürlich wird ein Besuchender sich für den ihm eingeschriebenen Uhrzeigersinn entscheiden. In den folgenden Räumen schält sich für seinen nach Strukturen suchenden Sinn ein erstes Motiv der Ordnung heraus: Der Moskito.
Manop Rattanarithikul, dem der Bestand, vielleicht auch der didaktische Aufbau dieses Museums zu verdanken ist, hat die berüchtigte Stechmückenart beinahe sein ganzes Leben lang erforscht. Es gibt hier, nach der brausenden Ouvertüre im Foyer, auch die ersehnten Kabinette, die mit ausladenden Kästen aufwarten, in denen penibel aufgesteckte und mit kamelhaarfein beschrifteten Täfelchen ausgezeichnete Stechmücken zu Hunderten konserviert wurden. Exemplarisch werden in Vitrinen auch die von Ernst Jünger bekannt gemachten Werkzeuge zur Jagd auf die Insekten ausgestellt. Das Tötungsglas, das Entspannungsglas zuvor, das Insektengefängnis auch; es besteht aus dem Gazestoff der Imkerhaube.
Eine Holztreppe führt in das obere Stockwerk. Hier wird, anscheinend übergangslos, das im Erdgeschoss aufgenommene Moskito-Wissen an einem Block aus komprimierten Elefanten-Facts zur Kollision gebracht. Der oder die Funken, den Herr Rattanarithikul oder seine Nachfolgerinnen daraus sprühen lassen, ist natürlich geistiger Natur. Es geht nun, die chaotische, den europäischen Sinne beinahe verwirrende, Ouvertüre eingedenk, um die Ordnung des Lebens selbst. In der, so die Nachricht des mittlerweile in eine nächste Sphäre weitergezogenen Museumskurators an die Besuchenden seines Werks: Das menschliche Streben besser eine wieder der Natur untergeordnete Rolle einnehmen sollte.
Flankiert wird die Botschaft von einigen Reihen sehr eng gestellter Regale, deren Inhalte der entomologisch Interessierte unter den Besuchenden schon aus Wilflingen kennen dürfte. Alle Käfer und Falter und sonstigen Krabbeltiere dieser Welt.
Allenfalls anders sortiert. Beziehungsweise: angeordnet. Denn das Ornamentale, eine höhere oder andere Ordnungs als das von Linné oder Darwin ersonnene System scheint hier die Hand mit der Stecknadel geführt; zudem wirkt ein zunächst für den europäischen Sinn deplaziert wirkender Bildkasten tatsächlich erhellend.
Zu sehen ist dort eine Fotografie einer Greisin mit einem etwa dreijährigen Jungen. Die Aufnahme ist erkennbar in einem anderen Jahrhundert gemacht worden. Auch die Kleidung, die Frau und Kind tragen, ihre Frisuren wirken historisch, abgelebt, alt.
Ergänzt wird diese Fotografie mit einem Text. Der Museumsstifter erinnert sich an ein prägendes Erlebnis aus seiner frühen Kindheit. Die Großmutter geht mit ihm durch das Dorf, das Chiang Mai, heute 200000 Einwohner stark, damals noch war. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Japan hat, im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten, den Norden Thailands besetzt. Der kleine Junge fürchtet sich vor den Flugzeugen am Himmel. Die Großmutter erzählt ihm, dass es Geier sind, die dort oben brummen und kreisen. Sie nimmt einen Stein vom Weg auf, der eigentümlich geformt scheint, überreicht ihm dem Jungen und behauptet, dass es ein Ei von diesen Geiern sei — ganz rund und glatt und auch so klein, dass es in eine Kinderhand passt.
Das Ei des Geiers, dieser Stein, ist das dritte Element in diesem Bildkasten, der auf den ersten Blick unpassenderweise an einem der Regale mit den toten Insekten angebracht hängt. Bei genauerem Hinsehen, der Text liefert den entscheidenden Hinweis auf dieses sprechende Detail, sieht man auf der historischen Fotografie die Auswölbung des Steins in der Hosentasche des kleinen Jungen. Darin ist das Punctum dieser Aufnahme und zugleich auch des Museums zu finden.
Darüber denkt man noch eine Weile lang nach.