12.1.
Schnee. Um kurz nach vier leuchteten schon dünne Lagen in der Dunkelheit. Schlief daraufhin natürlich noch einmal besonders tief und gut. Am Morgen trieben die Flocken schräg am Fenster vorüber. Das Barometer war über Nacht um genau den Wert gefallen, um den es während der vorvergangenen Nach gestiegen war (bis auf 1020 Hektopascal). Heute gehe ich natürlich nicht vor die Tür. Schnee bringt ein den weißen Schuhen vergleichbares Problem des Anschneiden-Müssens, beziehungsweise meines Heil-Lassen-Wollens.
Bei Isabelle Graw ging es gleich im vierten Eintrag um ihr Schreiben. Sie empfindet es trotz der bekannten Widrigkeiten als ein Privileg, am Schreibtisch sitzen zu dürfen, um nachzudenken. Geht mir ähnlich. Wobei es mich dann gestern, kaum dass ich das gelesen hatte, hinaus drängte, wo noch die Wintersonne scheinen sollte, denn meine Freiheit, nachdenken zu dürfen, wird von mir nicht bloß am Schreibtisch gegen die Anstürme der verwalteten Welt verteidigt, sondern überall, auch draußen.
Am Tel-Aviv-Platz setzte eine junge Frau der anderen auseinander, wie ungerecht sie sich von einer dritten behandelt fühlt, die übrigens abwesend war. Bei solchen Gesprächen höre ich sehr gerne zu, vermutlich ensteht so auch der Sog für mich in Die Andere Welt von Graw.
Auf dem Heimweg kam ich an einer mir unbekannten Bücherzelle vorbei, der ich einen weiteren Krimi von Jakob Arjouni entnahm, sowie drei außergewöhnlich hübsch gestaltete Broschüren aus den achtziger Jahren, die von einer indischen Sekte yogischer Flieger herausgegeben wurden: Living Meditation Through Aum Swarupa. In dem Heft mit dem Titel «Love : Sex» las ich heute früh, während es schneite: «Just by looking at the word ‹sex› we get different ideas about its many meanings. For example the pronounciation of the word sex is ‹se — x›. It can be read as a sign of multiplication, which is a ‹x›. In sex we multiply on many levels, not just physical. Another way to see sex is ‹see x – see a cross›: To ‹see across› is to explore. So seeing across one another is learning about each other.»
Nach dem Mittagessen hatte die Welt ihr Kleid schon wieder abgestreift.