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14.10.

14.10.

Das Leben schreibt eben gerade nicht die besten Geschichten. Kann es ja auch nicht. Dazu braucht es Kontext, dazu braucht es zwei.

Zum Beispiel heute, ich lese die Zeitung. Am Nebentisch lügen drei Frauen einander hemmungslos an. Ein Kind ist dabei. Es gehört zu derjenigen, die am ehesten noch vermögend ausschaut. Beziehungsweise, die so ausschauen will. Seitdem es Quiet Luxury auch bei den Ketten gibt, weiß man das nicht mehr so genau.

Dass die Frauen einander anlügen, weiß ich, weil die der vermutlich Vermögenden gegenübersitzende behauptet, Texterin zu sein. Dass sie davon aber nicht leben können wird, wird mir schon daraus ersichtlich, als sie der anderen ihr angebliches per diem nennt.

Die Vermögende hat nämlich angeblich ein Startup, dabei geht es um Hühnereier von Tieren, die der Qualzucht entrissen wurden. Und das Kaffeetrinken soll jetzt vor all dazu führen, dass die angebliche Texterin der Vermögenden einen Slogan honorarfrei — gewissermaßen: verrät.

Die Dritte sagt nichts. Sie kümmert sich um das Kind. Auch das trägt zum Eindruck des Vermögenden bei der Ersten bei, es zahlt ein auf diesen bei mir als Außenstehenden hervorgerufenen Eindruck, dass sie das nicht selbst erledigen muss: kümmern.

Bald ist das Kaffeetrinken vorüber. Die Vermögende belügt die Texterin mit ihrem Versprechen, sich bald wieder bei ihr melden zu wollen. Die angebliche Texterin widerum belügt Frau Drei und Eins mit ihrer Behauptung, sich umgehend an den Schreibtisch setzen zu müssen.

Ich hingegen, auf meinem Platz hinter dieser Zeitung spüre es in dem Moment, was als nächstes passieren wird. Und richtig gespürt:

Das Kind ist weg. Die Vermögende ruft zunächst, dann rennt sie los. Tatsächlich do kopflos wie ein Huhn. Oder halt wie eine Mutter, ein Vater, jedes Elternteil, wenn man vor lauter Nichtigkeiten das Wichtigste im Leben zu vernachlässigen fürchtet.

Das Café liegt direkt an der Hauptstraße. Es gibt zahlreiche Baustellen, klaffene Löcher in Asphalt. Von weitem leiern Martinshörner. Den gesamten Vormittag über geht es schon so. Und trotzdem ist es jetzt gerade auffällig still.

In seiner Kritik von Odenwald stellt Moritz Bassler die, natürlich, rhetorische Frage, ob diese Art zu schreiben, ob das informierte Schreiben, wie Thomas Meinecke es pflegt, nicht aus der Zeit gefallen wirken müsste; vielmehr ob die Zeit nicht darüber hinweg gegangen wäre, ist?

Literatur und Mode haben vor allem eines gemeinsam: Oft lohnt es sich, die Zeit darüber verstreichen zu lassen. To stand the test of time. So wie die Jahre über meinen leichten Mantel aus Nylon von Jil Sander hinweg gegangen sind, der in diesem Herbst, wie mit einem Mal, alle Blicke auf sich zieht.

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