21.8.
Neulich wurde Wolf Wondratschek 80 und ich war wie üblich nicht eingeladen, dafür begann mein Tag heute mit einem Wespenstich.
Das begab sich zu einer Zeit gegen kurz nach sechs Uhr, als ich aufstehen wollte, um die Türe zum Balkon zu schließen, weil die Spatzen dort draußen unbotmäßig schimpfen derzeit.
Gleich mein erster Schritt, also der Fuß, mit dem ich aufzustehen vorhatte, war der berühmtermaßen falsche: Ich hatte ihn, freilich ohne hinzuschauen, auf jene Stelle des Teppichs gesetzt, die sich eine lebensmüde Wespe zum Versterben ausgesucht hatte. Auf eine ungesunde Art fühlte ich selbst mich jetzt auf ungeheure Art am Leben. Schon auf dem Weg zum Eisfach schwoll die Sohle meines falschen Fußes spürbar an.
Hätte ich dieses Buch über die Wespen vom Wespenforscher Ohl nicht gelesen, ich hätte die innerkörperlichen Vorgänge der kommenden Stunden wohl kaum derart zu schätzen gewusst. Nun aber ahnte ich nicht bloß, ich wußte, dass die aus meiner Perspektive minimale Dosis des Giftes — Borroughs hätte sie wohl ein halbes Gran genannt —, vollkommend ausreichend war, um die Zellen des den Stichkanal umgebenden Gewebes zu sprengen. Die darin aufbewahrte Zellflüssigkeit quoll in die Schründe des intakten Gewebes ein und rief, wenn auch mit zellkernzarten Stimmen, die fortschreitende Anschwellung hervor.
Da sich gegen diese seit Jahrmillionen bewährten Vorgänge nichts unternehmen ließ, verblieb ich auf einem bequemen Stuhle sitzen und versuchte, beim in die Gegend schauen, einen möglichst visionären Eindruck abzugeben.
Beinahe wie von selbst fiel mir der wichtigste Text der zurückliegenden Woche ein, von Dietmar Dath: Über das Chirale.
Auch hatte er darin einen Gedanken zu gelförmigen Flüssigkeiten, neuartigen Ionogelen, die sich von den schon bekannten Hydrogel-Varianten weniger im Look, dafür umso mehr im Feel unterscheiden. Auch ein Formgedächtnis zeigen sie «bisweilen».
Glas ist ja auch ein Gel. Fingerkuppen aus Glas fühlen sich beim Rezipienten dieser Berührung nur dehalb weniger angenehm an als eine mit Fingerkuppen aus Ionogel, da sich das Gel Glas sehr viel gemächlicher verformt, als das neuartige.
Um die Berührung gläserner Fingerkuppen genießen zu können, müsste man sich zunächst das elektrische Geschehen an den Nervenenden herunterbremsen lassen — vermutlich auf eine John-Cages-Schnecke-hafte Frequenz.
Bis dahin schaute ich meinen Fensterscheiben beim Heruntergleiten in ihren Rahmen zu. Es würde noch mehr als hundert Jahre dauern.
Ich fürchtete beinahe nichts.