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11.4.

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Da mir nicht allein von Dritten, durchaus von mir selbst auch, ab und an zu verstehen gegeben wird, dass sich die meisten meiner Erinnerungen auf Erfahrungen, gemacht in einer Welt vor mindestens zwanzig Jahren, beziehen, kam das lange Osterwochenende mit seiner inhärenten Ruhe wie gerufen, um etwas Neues zu erleben. Making Memories wie der US-Amerikaner sagt (in altbekannter Griffigkeit; geradezu zupackenderweise).

Am Ostersonntag, so hatte ich es auf einem Plakat gelesen, würde in einem direkt angrenzenden, trotzdem entlegenen Stadtviertel, dem ominösen Französisch-Buchholz «das größte Osterfeuer Berlins» gefeiert. Das fand ich vom Erlebnisgehalt her vielversprechend. Der Stadtteil Französisch-Buchholz liegt politisch gesehen längst in Brandenburg.

Diese Reise geriet, auch wenn sie bloß wenige Straßenbahnhaltestellen weit führte, zu einer weiteren Lehrstunde hinsichtlich der Dimensionalität im Phantastischen. Schon inmitten der Beschaulichkeit der Kleingartenanlage «Gravensteiner Aue», die zu durchschreiten es vor dem Erreichen des Festplatzes galt, mischten sich subfrequente Dröhnschläge und fetzenweise Refrainstimmen in das allseitige Zwitschern und Flöten der Amselhähne. Die überwiegend bedrückend gestalteten Vorgärten der Wochenendhäuser taten das Ihrige, um trotz des wolkenlosen Himmels und des Sonnenscheins und den mit Ostereiern geschmückten Sträuchern eine Atmosphäre zu modulieren, wie sie im Horrorfilm als Sendbote einer vom Unheil geschwängerten Zukunft eingesetzt wird.

Friederike, die in der Planungsphase dieser Exkursion ins Brandenburgische als treibende Kraft aufgetreten war, behauptete sotto voce, dass «die Welt entdeckt ist». Das veritabel Exotische fände sich für den Anthropologen heute nicht länger in der Südsee, sondern in Brandenburg.

Tatsächlich hatte ich am Morgen erst vom politischen Schicksal des Wirtschafts- und Finanzministers von Vanuatu erfahren, der mir in seiner exzentrischen Art als glamourös erschienen war — freilich fußte auch dieser Eindruck, wie im Grunde beinahe alle der meinen, auf einem Weltwissen aus der Vergangenheit, über das die Zeit, die vor allem nicht meine schien, hinweggegangen war. Unter anderem war von ihr Moana Carcasses hinweggefegt worden. Er saß mindestens vier Jahre ein. Das Pressefoto zeigte ihn zwar auf vertraute Weise in einem Hawaiihemd, allerdings hielt er die Hände merkwürdig verkrampft hinter seinem muskulösen Rücken verschränkt.

In unseren Phantasien hatten wir beide uns also, jeder für sich, die schönsten Vorstellungen vom Geschehen rings um das größte Osterfeuer Berlins gemacht. Analog meinem Erlebnis mit den Magnolienknospen sah es vor Ort, in der Wirklichkeit von Französisch-Buchholz, natürlich ganz anders aus.

Mittlerweile denke ich, man tut den Mitgliedern der Festgemeinde kein Unrecht, wenn man sie «als überwiegend von der Alkoholkrankheit gezeichnet» beschreibt. Anders als auf Vanuatu kreiste der Cargo Cult der Einwohner von Französisch-Buchholz auch nicht um die Auferstehung von Prinz Philip, sondern um das Aufkommen von sogenannter Stimmung. Die Feierlaune war durchaus schon da, es gab einige Getränkeposten, an denen von Cocktails bis Fassbier so ziemlich alles im Angebot war, was das Herz begehrt. Aber noch schien die Sonne. Es war taghell und nach einem kurzen Streifzug durch die Gemeinde schworen wir uns, den Festplatz rechtzeitig zu verlassen, bevor diese natürliche Lichtquelle unterging. So weit schien das Osterfest von Französisch-Buchholz ja wirklich mit den Filmen von beispielsweise George A. Romero verwandt: Nach Sonnenuntergang würde die Welt dort erst so fürchterlich, wie sie es gefühlt schon bei Tageslicht gewesen war.

Die Wartezeit bis zum allseits erwarteten Auftritt der Band sollte ein DJ vertreiben, der in einem langen Frack mit goldenen Tressen und sehr hohem Zylinderhut die Bühne betreten hatte. Auffälligerweise spielte er kein einziges Stück, das nach dem Jahr 1988 veröffentlicht worden war. Dieses Jahr scheint für Brandenburger eine Art Wall oder Graben zu bedeuten, von dem ihre musikalische Erinnerung umfriedet bleiben will. Längst sogar von mir vergessene Gassenhauer wie zum Beispiel der von Mel& Kim regten hier zum Tanz auf der Festwiese an. Der Osterfeuerhaufen, das nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, türmte sich zu einer ungefähr vier oder fünffachen Breite und Höhe auf, wie einer der Haufen beim Biikebrennen auf Sylt. Und die waren schon auch gewaltig gewesen. Und ebenfalls anders als auf Sylt gab es hier in Französisch-Buchholz überhaupt keinen einzigen Feuerwehrmann. Von einem dafür ausgerüsteten Fahrzeug zu schweigen. Nirgends fand ich auch nur einen Schlauch. Besaßen die Good People von Französisch-Buchholz am Ende einfach Gottvertrauen?

Der Horrorfilm schwärmt ja seit Herschel Gordon Lewis bevorzugt in die abgelegenen Gebiete, zu den Hinterwäldlern aus, um dort urbane Typen mit landwirtschaftlichem Gerät zu terrorisieren — man weiß eigentlich gar nicht warum, beziehungsweise: ob darin eine erzählerische Absicht liegt? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebten noch drei Viertel der englischen Bevölkerung auf dem Land. Anfang des zwanzigsten hatte sich das Verhältnis dann zugunsten des Stadtlebens umgekehrt. Vermutlich schreiben wir seitdem, zumindest in Berlin ist das so, der Landbevölkerung eine mythische Verwurzeltheit, eine Erdung, die zugleich eine Enthobenheit von unserer Gegenwart mit sich bringt, zu. Auch über sie ist die Zeit hinweggegangen, aber in einem guten Sinn; von der als konzeptuell und daher als anstrengend empfundenen, ja: dekadenten Welt, in der die Städter leben, bleiben die Landmenschen verschont. Beziehungsweise bekommen sie es stückweise mit, fügen diese Fragmente unserer Wirklichkeit dann in ihre Realität.

Eventuell entsteht somit das Gefühl echter Exotik, von dem Friederike gesprochen hatte. Ob sie es denn auch recht genießen konnte, fragte ich sie aber nicht.

Noch während des zweiten Stückes, das die Band spielte, verließen wir den abgezäunten Festplatz. Im gelblichen Licht, das nach diesem sonnigen Tag etwas von der pudrigen Staubigkeit eines Films von Marcus Nispel hatte, gingen wir dicken Strömen von vornehmlich in Schwarz gekleideten Männern vieler Altersgruppen entgegen, die sich offenbar beeilen wollten, um noch vor Sonnenuntergang den Schutzring der Security hinter sich zu lassen.

Nach Sonnenuntergang galt der doppelte Eintrittspreis.

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