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16.12.

16.12.

Dass es bei Minusgraden zugleich sehr viel leiser zugeht in der Welt erkläre ich mir insgeheim damit, dass die Moleküle sich jetzt langsamer bewegen; sie dämpfen quasi den Schall. Was freilich nicht stimmt.

Ist etwas laut, fällt es nun besonders auf — sozusagen «ins Ohr».

An der Haltestelle fuhr gestern eine massige Frau ein Kind im Wagen vor. Das Kibd war dafür, um herumkutschiert zu werden, eigentlich längst zu groß, aber für die Frau, die ja vielleicht auch seine Mutter war, schien das bequemer im Handling des Kindes, zumal sie noch einige Tragetaschen gefüllt mit Leergut zu transportieren hatte.

Das Kind schrie. Es weinte dabei, aber mit den Tränen schrie es auch. Es war ein Schreiweinen in einer fremden Sprache, die Mutter sprach eine, die für mich russisch klang, vielleicht war es sogar Ukrainisch, auf jeden Fall eine slawische Sprache. Beruhigen ließ das Kind sich damit nicht.

Das Kind brüllte. Die Mutter sprach, dann schaute sie in meine Richtung und sagte «Chips.» Dann noch einmal «Chips!» Und daraufhin, ganz offensichtlich war dies eines der wenigen Worte des Deutschen, das sie kannte (oder des Englischen, je, nachdem): «Chipschipschips!»

Das Kind, soviel hatte ich aus der Kombination von unartikuliertem Schreiweinen und dem geheimen Wort verstanden, wollte Chips. In Wahrheit wollte es natürlich trost. Vielleicht war ihm kalt in seinem Wagen. Aber weil die Mutter es früh schon mit Chips getröstet hatte, konnte seiner Mutter den Wunsch nach Trost nicht anders verständlich machen als mit seinem Schrei nach Chips.

Die Mutter hatte aktuell aber andere Sorgen und keine Chips mitgebracht. Trost schon, aber der war ja offenbar nicht gefragt. Dafür Chips. Und so redeten und schrien sie aneinander vorbei.

Morgen sollte es noch kälter werden.

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