07.10.
Kurz vor sechs Uhr in der Frühe dringen die Weckrufe durch die geschlossene Wolkendecke. In der Dunkelheit zieht ein Schwarm von Gänsen über das Haus, die Straße, das Viertel, die Stadt und über das Land hinweg, um den Erdteil, in dem ich lebe, hinter sich zu lassen. Es ist der erste Schwarm in diesem Jahr, den ich bei seinem Abschied von Ostdeutschland beobachten kann. Lauschenderweise.
Im Dunkeln geht mein Blick zur Uhr, die um sechs Uhr, präzise, vom Nachtmodus mit gedimmten Ziffern umschaltet auf die Anzeige zum Tag. Die Uhr zeigt alles mögliche an, auch Daten, für die es lang, seit Menschengedenken, keine Masseinheiten gab. Meine Schlafqualität gibt sie heute mit „ausgezeichnet“ an, das entspricht, auf dieser Skala, einem Wert von 92 von hundert. Das Hinübergleiten aus den dunklen Weiten des Lauftraumes in die Technosphäre gelingt mir anstandslos.
In Tibet sind circa tausend Menschen vom Schnee an den Hängen des Himalayagebirges überrascht worden. Auch hierbei filmen sich die Leute. In der Tagesschau war eine chinesisch wirkende Wandertouristin in ihrem Wurfzeltchen zu sehen, wie sie mit ihren Fäusten gegen die vom Schnee bedrängte Zelthaut stösst. Ein hystrionisch getriebenes Kabinettstückchen. Ziemlich müde Nummer, aber immerhin halt Tagesschau und wer weiß, ich nicht, wo sonst noch überall im Bild.
Die Eingeschneiten werden mit Yaks abgeholt. Gezeigt wird ein langer Tatzelwurm aus Gesichtslosen in bunter Funktionskleidung, der sich hinter den stapfenden Rindviechern der Talsole entgegenschleppt. Die Chinesin ruft in ihr Mobil „Wo bleiben die Yaks!“
Den Tieren fällt eine archaische Rolle zu. Den Gänsen sind Drohnen gleich. Im letzten Jahr sind Mauersegler auf ihrem Rückweg in den Süden über Wien in der Luft ertrunken, als es dort so stark, wie sonst im Monsun, geregnet hatte.
„Mail“ kündigt die Lieferung von Shadow Ticket an. William T. Vollmann hat die erste Besprechung geschrieben, die mich interessiert. Diese Art von Rezension auf Augenhöhe mit dem Schriftsteller ist ja hierzulande im Grunde unbekannt. Es sei denn, Clemens Setz greift selbst zum Stift.