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22.1.

22.1.

Am Abend des Neujahresfestes saß ich in Hanoi auf einem der dort üblichen, bodennah gebauten Stühlchen, in einer Gasse am Rande des französischen Viertels und schlürfte lange, elastische Nudeln aus einer Rindssuppe, die auch sonst ganz ausgezeichnet war.

Kurz zuvor hatten wir am Platz vor dem Opernhaus zwei mit Helium gefüllte Ballons in den Formen von Katzen steigen lassen, die aus metallisch glänzender Goldfolie gemacht waren. In einer flachen Parabelbahn entschwanden sie in den taubeneifarbenen Abendhimmel. Die Luft hatte angenehme 20 Grad. Ein Greis spann Zuckerwatte in rosa und türkis.

Die Frau, die den Suppenstand betrieb, hatte eine rauhe Stimme. Aus einem kleinen Abspielgerät schepperte, wie so oft in Vietnam, eine Aufnahme von Madame Butterfly. Manchmal war es auch die Ballade vom Mond und der Sonne aus Miss Saigon. Die Vietnamesen, so mein Eindruck, stehen auf schwelgerischen, bisweilen schwülstigen, stets inbrünstigen Gesang.

Ganz plötzlich aber brachte die Suppenwirtin eine andere Stimmlage heraus, jetzt ahmte sie also eine junge Katze nach. Ihre rauhe Stimme wurde dabei zu einem Stimmchen, ihr Blick ging von ihren hohen Brühetöpfen und den Kräuterkörbchen, der Rindfleischschüssel und dem Nudelberg hinauf zu dem über die Markise aus der Fassade kragenden Balkon: wo tatsächlich das ängstliche und wie fragend schauende Gesicht eines Kätzchens erschienen war, das ebenfalls ein dünnes Stimmchen hören ließ.

Eine ganze Weile gab es nun nur noch diesen Dialog zwischen der Wirtin und dem Kätzchen, das sich offensichtlich in einen Spalt in dem maroden Mauerwerk des Balkons eingeklemmt hatte und weder zurück noch voranzukommen schien.

Zeitweilig waren einzelne, direkt unter dem Balkon platzierte Nudelsuppenessende auch schon einmal von ihren Stühlchen aufgesprungen — offenbar aus ihrer Befürchtung heraus, dass die Katze von dort oben einen Absprung direkt in ihre Suppen wagen könnte.

Irgendwann jedoch sprang die Katze tatsächlich. Das war in einem Augenblick, da niemand mehr so recht hinsah. Auch ich nicht. Und die Wirtin war mit dem Befüllen einer weiteren Schale beschäftigt. Somit schien es mir wie ein Zaubertrick, wie ein Wunder beinahe, dass in der Hand des Gastws neben uns mit einem Mal eine Katze lag — eben diese Katze vom Dach. Sie war ihm dort hineingehüpft.

Beziehungsweise hatte er ihr seine Handschale untergeschoben wie ein Sprungtuch.

Zwei Stunden später wurde das Jahr der Katze mit einem Feuerwerk über dem See von Hanoi begrüßt. Da hatte unser Flugzeug aber schon seine Reiseflughöhe erreicht. Und die Stewardessen servierten den für das Neujahrsfest typischen Kuchen aus grünem Reis mit Schweineklößchen. Man stieß mit Cel-Ray an von Dr. Brown’s.

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