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14.5.

14.5.

Nichts übt eine stärkere Faszination auf mich aus als die Idee eines Doppelgängers. Seitdem ich vor ein paar Jahren selbst verwechselt wurde und die mir unbekannte Person, die mich angesprochen hatte, sich auch nach meiner Beteuerung nicht davon abbringen ließ, dass ich ein Anderer sein müsste, ist aus der Faszination ein Thema geworden. So fuhr ich dann gestern nach Frankfurt an der Oder, weil ich dort noch nie gewesen war. In Frankfurt am Main aber schon.

Im Regionalexpress, ich reiste nicht allein, wurden wir von zwei Frauen angesprochen, die uns belauscht hatten und, als es in unserem Gespräch um ein bestimmtes Einkaufszentrum ging, eben damit einhaken wollten, dass sie «dort» lange Zeit gearbeitet hatten. Wie es sich weiterhin herausstellen sollte, handelte es sich um zwei pensionierte Angestellte der Techniker Krankenkasse, deren Filiale in eben diesem Einkaufszentrum untergebracht war und übrigens auch heute noch ist.

Das weiß ich, das wussten wir beide, weil wir nämlich alle vier bei dieser Krankenkasse versichert sind — beziehungsweise nehme ich an, dass die Rentnerinnen auch weiterhin der «TK» ihre Treue halten wollten. Apropos: In Frankfurt an der Oder wollten sie sich einen «bunten Tag» machen, wie sie es uns gegenüber ausdrückten. In Berlin, der Stadt, in deren östlichem Teil sie einst geboren und aufgewachsen waren (in Buch-Röntgental, beziehungsweise in Prenzlauer Berg), fanden sie es ja angeblich zunehmend unschön. Bevor sie aber diesbezüglich noch tiefer ins Detail gehen konnten, schnaufte der Regionalexpress RE1 schon in den Bahnhof von Frankfurt ein.

Dass der Doppelgänger an der Oder liegt, fällt zunächst ebenso wenig ins Gewicht oder Bild wie im anderen Fall dessen Lage am Main. Der Frankfurter Bahnhof jedoch zeigte eine Zierlichkeit im Vergleich, beinahe südfranzösisch oder bulgarisch von der Stimmung her. Lediglich eine kurze Welle gewölbter Metalldächer auf grazilen Stützen, von überall her Luft und Licht. Kaum Tauben.

Ein Momument im Stil der Neuen Sachlichkeit war von einem schön patinierten Eisenbahnrad gekrönt, das an beiden Seiten Hermesschwingen hatte. Damit, das wurde uns aber erst im Nachhinein klar, hatte sich das ohnehin etwas schmale Repertoire der Sehenswürdigkeiten Frankfurts schon erschöpft.

Ringsum, der Bahnhof ist auf einer deutlichen Anhöhe situiert, war vor allem Grün zu sehen. Man ist das ja gar nicht mehr gewöhnt, dass eine Stadt so gar nicht mehr wächst. Und das schon seit Jahren. Im Regionalexpress waren uns hingegen andauernd Werbespots für Eisenhüttenstadt, genannt «Hütte» vorgeführt worden. Dass es um Frankfurt auch schlecht bestellt war, wurde uns aber jetzt erst klar. Live.

An einem Samstagvormittag bei schönstem Maiwetter hatten wir nach drei Kilometern noch nicht einmal das Dutzend Frankfurter voll. Am Ufer der Oder, wo es heftig windete, gab es weder Cafés mit Flußblickterrassen, noch sonst irgendwelche Restaurants. Nicht einmal Döner. Auch keine Junkies. Oder andere Touristen.

Wir flohen nach Polen. Auf der Fußgängerbrücke herschte ein starker Migrationsdruck ohne Gegenströmung. Und sei es auch bloß für ein paar Stunden, für diesen Tag.

Aufgrund der speziellen politischen Situation des polnischen Volkes hat man sich dort auf den verkauf von Feuerwerkskörpern und zollfreien Zigaretten spezialisiert. Der gesamte Ort auf der anderen Seite der Oder ist vom Prinzip her ein Discounter für die Bevölkerung von Frankfurt.

Alexander, der immer sehr gute Ideen hat, aber sie mir zu selten mitteilt, hat einmal gesagt, dass die Welt nur gerettet werden könnte, wenn alle Menschen bei dem Fernsehsender Phönix arbeiten würden. Auf eine latent abgewandelte Weise haben die Polen mit den Frankfurtern diese Utopie schon im Klitzekleinen verwirklicht.

Einem alten Polen namens Marek kaufte ich ein sehr großes Glas mit Buchweizenhonig ab. Es ist nicht nur sehr groß, sondern auch sehr schön und der dunkle Honig, der in diesem großen schönen Glas leuchtet schmeckt wunderbar.

Im 14. Jahrhundert starben zwischen 40 und 50 Prozent aller Europäer. Zunächst an Proteinmangel nach den Jahren der Rinderseuchen, dann mit den Folgen der Unterernährung durch Schwarze Pest. Nur die Polen nicht. Die Zahl der Polen blieb beinahe stabil. Warum, woran das lag, wodurch die Polen sich immunisiert hatten, das bleibt bis heute unerforscht.

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